Dr. James Croft ist Direktor für Öffentlichkeitsarbeit der „Ethical Society of St. Louis“, eine der weltgrößten humanistischen Gemeinden. Aufgewachsen mit Shakespeare, Carl Sagan und Star Trek; ein überzeugter Atheist.
Eines Tages nahm er an einem „Sacred Harp Singing“ teil. Vier Gruppen von Menschen (Bass, Tenor, Alt und Sopran) sitzen sich im Quadrat gegenüber und singen, ohne Publikum, nur füreinander. Ausschließlich christliche Lieder. Was treibt einen ungläubigen Humanisten dort hin? Lassen wir ihn zu Wort kommen:
„Unmöglich, nicht vom Sound mitgerissen zu werden. Laut, voll, ein bisschen kantig, fast scharf. Deutliche offene Quinten, kernige Terzen. Ich singe in einer völlig anderen Stimme (mein Gesangslehrer würde mich umbringen), nasaler, wie bei englischen Folksongs, mein Fuß tappt den Takt auf dem harten Holzboden.
Ich fange Blicke der anderen auf und weiß, dass meine Augen wie ihre leuchten. Der Sound trifft mich von allen Seiten, eine rauschhafte Erfahrung; das Blut pulsiert in den Ohren. Vibrationen im Bauch, Kribbeln in den Händen, Musik in der Seele. Das ist Singen.“
Redet so ein Atheist? Croft weiter:
„Der Humanismus bietet nichts dergleichen an. Noch nicht. Ich, ein engagierter Atheist und lebenslanger Humanist, war bewegt, ja, mitgenommen von der Kraft des Sacred-Harp-Singens. Es spielte keine Rolle, dass ich nicht an ‚Amazing Grace‘ glaubte, an eine ‚erstaunliche Gnade‘, die einen Sünder wie mich erretten würde; die Magie der Musik funktionierte trotzdem, so wie sie für die Gläubigen in diesem Trailer von ‚Awake, My Soul‘ funktionierte, einer Dokumentation des Sacred-Harp-Gesangs.
‚Wie kein anderes Gefühl in der Welt... hier fühle ich mich am besten.‘
‚Als ob der Boden unter meinen Füßen schwankt und mich anhebt.‘
Gibt es dafür Raum in humanistischen Gemeinden? Wollen wir das?“ (Quelle)
Nun, die Meinungen darüber werden sicherlich geteilt sein. Ich kenne einige säkulare Geister, die beim oben beschriebenen Szenario das kalte Grausen bekommen. Aber hier sollten m. E. die gleichen Prinzipien gelten wie bei der Religionsfreiheit: Es ist Privatsache, jeder darf und niemand muss.
Denn es gibt auch die andere Meinung. Es gibt das Bedürfnis nach Zusammenkünften, bei denen nicht nur geredet wird, auch in der säkularen Szene. Sonst wären die „Gottesdienste ohne Gott“, die „Sunday Assemblys“ (sie meinen diesen unenglischen Plural ernst) nicht entstanden.
Nette Idee... aber das mit der Musik kriegen sie nicht hin. Sie wiederholen die Fehler einer sich modern geben wollenden evangelischen Kirche, die ihrerseits unter schlechter Musik leidet, und setzen noch einen drauf. Man sehe (und höre!) sich hiervon nur zehn Sekunden an (bei Minute 1:00):
Sacred Harp kann das besser, und ein paar mehr Sekunden als zehn seien empfohlen:
„Wollen wir das“ fragt Croft. Nun, meine Antwort lautet „ja“.
Ein Teil des Lebens besteht darin, es lebenswert zu machen, das heißt, die Welt um uns herum und unser Miteinander zu unserem gemeinsamen Vorteil zu gestalten. Nachdenken, entscheiden, steuern, prüfen, diese Begriffe sind hier charakteristisch. Klarer Verstand, Wissenschaft und rationale Politik sollten die Werkzeuge sein. Nennen wir diesen Teil „Aufgaben“.
Im zweiten Teil tun wir Dinge um ihrer selbst willen; wir lieben, hören Musik, erfreuen uns an Kunst und Natur. Wir geben uns Eindrücken hin wegen der Gefühle; diese Gefühle machen die Essenz unseres menschlichen Lebens aus. Nennen wir diesen Teil „Hingabe“.
Wir brauchen beides. Die Bewältigung von Aufgaben ist notwendige Bedingung, um den Raum für Hingabe zu schaffen. Religionen und Esoterik bringen uns dazu, die beiden Aspekte miteinander zu verwechseln und die Erfahrungen (Intensität, Empfindungen von Tiefe, gar „Wahrheit“) der Hingabe als Instrumente für das Beackern der Aufgaben anzuwenden, wo sie völlig untauglich sind. Diese Verwechslung halte ich für eines der größten Übel der Menschheit.
Säkulare Humanisten machen gern den komplementären Fehler und blicken verächtlich auf irgendwelche „Gruppen-Happenings“, die nicht dem unmittelbaren Erkenntnisgewinn dienen. Menschen, die sich enttäuscht von der Kirche abgewandt haben, die eine neue „weltanschauliche Heimat“ suchen und sie im säkularen Bereich zu finden hoffen, treffen daher auf eine „Leerstelle“, wenn es um das Miteinander geht und holen sich die nächste Enttäuschung ab.
Viele derer mit exklusivem Fokus auf „Denken, Rationalität und Diskurs“ verpassen vielleicht eine Bereicherung. Etwas mit Vergnügen um seiner selbst willen zu tun, ist ein Stimulus der Ideenfindung, denn die beiden „Baustellen“ des Lebens sind nicht völlig entkoppelt. Wer hat sich noch nicht gewundert, dass ihm beim Radfahren, beim Wandern, gar beim Duschen Ideen kommen? Oder nach dem Singen? (Und wer hat sich noch nicht mit Hingabe einer Aufgabe gewidmet? Alles nicht so einfach.)
Aber müssen es denn christliche Lieder sein?
Nein, müssen nicht. Nur muss man erstmal etwas besseres finden. „Happy Clappy“ jedenfalls, wie das oben im Video nur ungern demonstrierte „Wake me up before you go go“, scheint nicht für alle zu funktionieren. Manchen mag es momentan gute Stimmung bereiten (mir nicht; ich bin wohl ein Miesepeter), aber rührt es an? Packt es einen im Innersten? Wie kommt es eigentlich, dass es kaum gute Lovesongs gibt ohne Kummer und Leid, Tod und Verderben? (Nick Cave hat darüber gesprochen.)
Nehmen wir doch mal so etwas:
I sing a song which doth belong
To all the human race,
Concerning death which steals the breath
And blasts the comely face;
Come listen all unto my call
Which I do make today
For you must die as well as I,
And pass from hence away.
No human pow’r can stop the hour
Wherein a mortal dies,
A Caesar may be great today,
Yet death will close his eyes:
Tho some do strive and do arrive
To riches and renown.
Enjoying health and swim in wealth,
Yet death will bring them down.
Das ist kein „Wischiwaschi“, sondern ein herzhaftes „Memento mori“. Es erlaubt keine Ausflüchte; es lässt auch (oder gerade?) mich Atheisten nicht kalt. Wer spricht im Alltag schon über den Tod? Lieber verdrängen wir das Thema. Solche Texte lassen das nicht zu, sie hauen uns die ungeschminkte Wahrheit (zumindest, was die Endlichkeit unseres Lebens betrifft) um die Ohren.
Und das soll Spaß machen, sowas zu singen?
Ja. Singen hat etwas mit Selbstoffenbarung zu tun. Wer vor anderen Leuten die eigene Stimme hören lässt, gerade wenn er angerührt ist, zeigt sich von seiner verwundbaren Seite... und in einer Runde Gleichgesinnter macht er dabei die Erfahrung, dass diese Verwundbarkeit nicht ausgenutzt wird. Das Offenlegen der eigenen Schwächen verleiht unerwartet Stärke. Vielleicht sogar die Stärke, den Tatsachen des Lebens mutig ins Auge zu sehen. Religiöse Menschen würden jetzt eventuell Jesus zitieren; das tue ich nicht. Aber es mag eine gewisse Übereinstimmung geben in dem, was sie und ich meinen.
Das Christentum hat 2000 Jahre Erfahrungen gesammelt. Man muss nicht an Gott glauben, um einige davon für gut zu befinden.
Dies ist ein Aufruf zum Diebstahl.
Ja, wir wollen das!
Ein sehr schöner Text!