Zwangsstörung - singen Orangen?

in #deutsch5 years ago


Komm, lass Dich drücken. Es ist alles in Ordnung.

Kurzer Eintrag über meine Erfahrungen mit OCD


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Ich sitze hier vor meinem PC, schaue auf diese weisse Fläche, auf die ich in virtueller Art und Weise diese schwarzen Zeichen abtippe. Die Zeichen werden dann von Augen interpretiert, in einen Zusammenhang gestellt und zu Aussagen aufgefasst. Gelesen also. Und auf diese weisse Fläche versuche ich, in möglichst sinnvoller Art und Weise zu erzählen, was mir so durch den Kopf geht. Ich habe, ehrlich gesagt keine Ahnung. Aber lasst mich zuerst mal umschreiben, was ich genau erlebe.

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Ich erfreue mich daran, dass ich OCD habe. Für die, die es nicht kennen, das hier ist, was es für mich ist.
Ich stehe vor unendlichen Möglichkeiten. Kennst Du den Moment, wo Du einen Schritt machen könntest, mit deinem linken Fuss, die Treppe hinunter in Richtung Wohnzimmer? Oder aber man könnte es auch unterlassen, für sagen wir drei Sekunden, die Wand links und rechts anfassen, sich einmal drehen und dann die Treppe mit rechts zuerst, hinabsteigen. Ich könnte beides tun. Ich könnte auch zuerst mit links anfangen und dann wieder zurück auf die oberste Stufe gehen und die 2. Variante angehen. Dies wäre dann Variante 3. Eine feine Kombo. Ich könnte dann auch die Kombo variieren, vielleicht zuerst so wie oben beschrieben, dann das Ganze nochmals, aber jeweils den andern Fuss verwenden, also rechts zuerst, und dann links. Ich könnte natürlich auch beidfüssig hüpfen, aber das wäre irgendwie auch komisch. Ich könnte dazu singen, an den Boden kacken und weinen vor Überforderung und wild um mich schreien, weil ich so unentschlossen bin. Ich könnte so vieles, doch oftmals ist die Tatsache, dass ich vor allem dies tue: einfrieren und nichts tun.

Kennst Du das? Du kannst noch so lange erwähnen, wie du dich verhalten, ob du etwas sagen oder es unterlassen willst, ob du reagieren oder es sein lassen willst, Du kannst noch so lange über all die Optionen nachdenken, eine Lösung gibt es keine. Nicht in dieser Hinsicht. So stehe ich vor der Tür - auftun? Nicht auftun? Was, wenn es ein Test ich, und man mich prüft, ob ich die Türe wage aufzutun? Was, dass genau das umgekehrte ein Test ist und ich sie eben nicht auftun sollte? Was, wenn ich für immer bestraft würde, wenn ich mich falsch entscheiden würde? Und wie finde ich heraus, was "falsch" ist?


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Jetzt, wo ihr diese Fragen seht, könnt ihr euch vorstellen, dass ich mir da manchmal in die Hand beisse, nicht weiss, ob ich weinen oder lachen soll, nicht weiss, ob die Geräusche, welche ich von mir gebe ein Lachen oder ein Weinen ist (und dies ist wirklich ab und zu der Fall), mich oftmals frage ob ich wahnsinnig bin und diese innere Unruhe kaum ertragen kann, dass ich unentschlossen und völlig verängstigt vor einer Entscheidung stehe und keine Ahnung habe, wie ich mich entscheiden sollte aber weiss, dass ich mich entscheiden muss? Und so kann es vorkommen, dass ich mich in eine Kette von vielleicht falschen Entscheidungen, Schritt, Bewegung, Licht ab, Licht an, links schauen, etwas sagen, verwickle und schlussendlich am Boden zerstört und entkräftet einschlafe.

Ja, manch einer würde sagen, OCD ist eine Last. Es erschwert das Leben. Und es stimmt schon, solange man es nicht in die Kontrolle kriegen kann. Denn woher kommt die Angst, woher die Zwänge?

Ich habe keine Ahnung. Ups. Ja, ich weiss nicht, woher ich die Ideen herhole und was genau ich damit bezwecken will. Ich meine, ich stresse mich mehr darüber, ob ich eine Orange oder doch keine Orange will, essen soll, oder ob ich wollen will aber eigentlich doch nicht wirklich will, als wenn die Orange violett wäre und mir ein Lied singen würde. Das würde mich wohl amüsieren und essen würde ich es nicht wollen, es sei den sie singt schlecht aber schmeckt hervorragend. Aber ob ich eine Orange esse oder beim Singen zuhöre, ich habe auf jeden Fall genug Gründe, wenn auch grundlos, mich darüber den Kopf zu zerbrechen.


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Ich habe mich in den letzten zwei Jahren durch die Umstände, in die ich geraten bin, intensiver mit mir und meinen Zwängen auseinandergesetzt. Die Umstände sind folgende: ich habe Hilfe erhalten, denn ich hatte um Hilfe gebeten. Und die einfache, wirksamste Therapie, für mich, ist folgende: Körperkontakt. Das Gefühl zu erhalten, sicher zu sein. Dass mich jemand hält und liebt und ich das Gefühl von Nähe und Sicherheit spüren kann.

"Willst du auch essen?" werde ich gefragt. Meine Gedanken: Ok, er schaut sich unsicher um, vielleicht steckt dahinter irgendwas. Ich weiss nicht, was soll ich sagen? Ist es gut für mich, jetzt zu essen? Will er, dass ich mich freue? Sollte ich helfen? Vielleicht hofft er, ich sage nein, damit er essen kann. Bin ich überhaupt hungrig? Ich weiss nicht, ich habe gerade vergessen, was Hunger ist. Was ist es überhaupt? Kartoffelbrei. Vielleicht bin ich zu dünn und brauche Nahrung, meint er und hat darum für mich gekocht. Vielleicht mag er mich und will mich imponieren.
Ich schweige. Ich würde gerne sagen, ich weiss es nicht. Ich sage ja, die Person geht in die Küche. Oh Mist, was, wenn er sich jetzt nervt? Ich gehe in die Küche und hole eine Schale. Ich will helfen, ich will keine Strapaze sein. Er hat schon eine Schale. Sollte ich was sagen? Ich weiss es nicht. Ich stehe also da, mit Löffel im Mund, leerer Schale in der Hand und schaue ihm zu, wie er die Schale füllt. Ich lege die Schale zurück, fühle mich jetzt schuldig. Ich nehme die volle Schale, sage danke. Habe ich alles richtig gemacht?

Oder es läuft so: gleiche Frage, gleiche Gedanken. Ich gehe in Küche, bin schneller und habe eine Schale in der Hand und fülle sie. Doch viewiel nehme ich? Wieviel darf ich nehmen? Muss ich nachfragen der wäre das eine komische Frage? Hätte er mir vielleicht gerne die Schale gefüllt? Habe ich ihn jetzt verletzt und ist es egoistisch, sich selber die Schale zu füllen? Vielleicht hatte er eine genaue Menge für mich eingeplant und ich bin arrogant genug, es durcheinander zu bringen. Vielleicht ist er jetzt genervt, kann es aber nicht sagen. Vielleicht hasst er mich, und ich werde es nie erfahren.

Oder: Gleiche Frage, gleiche Gedanken. Ich sitze noch auf der Couch und zweifle darüber, ob ich in die Küche gehen sollte oder ob ich genau hier zu sitzen habe, damit ich lerne, dass es ok ist, mich zu bedienen, währenddem er die Schale füllt. Oh, hätte ich sie selber füllen sollen? Habe ich zu langsam geantwortet? Habe ich einen Fehler gemacht?


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Ihr seht, egal, welche Situation, welche Entscheidung, folgendes taucht auf: Schuld und Zweifel. Grösstenteils Schuld ab egal welcher Handlung oder Unterlassung einer Handlung und Zweifel zur Handlung, wegen der Schuld, und schlussendlich, wegen der Angst, etwas falsch zu tun. Und es gibt Tage, an denen sie so stark sind, dass ich mich Frage, ob ich jemals das Leben geniessen kann. Und dann gibt es Tage, da erkenne ich es nicht einmal und erfreue mich ab einem wundervollen Tag. Ich kann also das Leben geniessen, ja, auch mit OCD. Auch wenn es an Tagen zermürbend ist, auch wenn es mir an Tagen das Gefühl gibt, völlig verloren und alleine zu sein, trostlos versunken, hoffnungslos.

Vielleicht müsste ich darüber reden? Aber was, wenn genau das der Fehler ist, und ich es nie mehr rückgängig machen kann? Ja - wer zum Teufel weiss das schon. Wer kann mir da eine Antwort geben?

Aber da mich eh jede Entscheidung würgen wird und mich zum zweifeln animieren wird, kann ich ja eigentlich einfach darauf los entscheiden. Ob es Sinn macht, wer weiss das schon. Wie es mir meine Mutter immer gesagt hat: Die Buddhisten sagen, ob links oder rechts entscheiden, ist nicht so wichtig, Hauptsache, Du entscheidest Dich. Und so habe ich dann natürlich um so mehr Bangel, wenn ich mich nicht entscheide, denn dann bin ist festgefahren. Aber, witzigerweise ist ja genau das auch eine Entscheidung, also kann ich mich ja gar nicht nicht entscheiden. Und so komme ich zum Schluss, dass ich a) mich sowieso entscheide, ob ich mich nun will oder nicht, in jeder Sekunde, und b) dass es Rolle spielt, solange ich mich entscheide, was ich so oder so tue. Mit anderen Worten: Ich kann gar nichts falsch machen.


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Uff. Ich kann also endlich doch durchatmen und mich einfach darauf los entscheiden und erleben, was die Konsequenzen dieser Entscheidungen sind. Denn, am Schluss ist, wie das Wort es sagt, die Entscheidung die Sache, die uns alle zusammenbringt, also ent-scheidet, uns, mich mit allem, vereint. Denn was weiss ich wirklich über die Folgen, kann ich es steuern? Meiner Meinung nach nicht, denn dafür gibt es zu viele Optionen als dass ich erahnen könnte, welche eintreffen würde. Meist kommt was ganz anderes heraus, als ich mit Entscheidungen zu erzielen erhoffte. Und so ent-scheide ich mich von einem Aspekt meiner Selbst, ergänze mein Sein um eine Erfahrung, welche ich vielleicht nicht wollte, aber doch erleben sollte, und so vereine mich damit.

Vielleicht ist OCD also bloss die Tatsache, dass ich ein Controlfreak bin und mich schlicht nicht damit abfinden kann, dass ich nicht alles kontrollieren kann und es nicht in meiner Macht liegt, vorauszusehen, was meine Entscheidungen für Konsequenzen haben werden. Denn sie können unendlich viele haben. Und die Unendlichkeit ist zeitlos, somit würde ich nie zu einer Lösung kommen, denn ich kann mir nicht alle Möglichkeiten vorstellen. Das Kontrollzentrum kommt an eine natürliche Grenze. Es liegt also ausserhalb meiner Macht. Welch eine Erleichterung.

flurin


Sort:  

Scheiße. Dass kommt mir sehr viel bekannter vor als ich wahrscheinlich wirklich zugeben möchte..
Habe nur gelernt meine eigenen Unsicherheiten zu überspielen..
Aber das ist ja auch nur Illusion..

Meist hock ich einfach da und beobachte wie um mich herum alle abkacken, die Welt abkackt, viel zu viel abgeht..

In dem Zusammenhang bin ich Rick: ^^

Hehe, ja, das klingt nicht nur angenehm... Ich glaube, wir alle haben gelernt, zu überspielen. Ich denke, das Mutigste, was ein Mensch tun kann, ist authentisch zu sein. In dem Sinne, Rick, schau, dass Du Leute findest, welche Dich halten und verstehen. Sind selten, aber sehr heilsam. Alles Gute.

Ah und ja, die Welt kackt ab, aber nur teilweise. Die Frage ist, wohin Du schaust. ;)

:]

Um einen guten Durchschnittswert zu erlangen lohnt es sich meist in die Masse zu schauen..

Das stimmt und wenn man da hin schaut, dann kann es einem grausen. Deshalb habe ich beschlossen, mich auf das zu fokussieren, was mir passt. Was ich in der Welt sehen will. Und entsprechend schwimme ich wohl etwas gegen den Strom haha... was kackt denn am Meisten ab, Deiner Meinung nach? Meiner Meinung nach sind die Menschen am schlafen. Viele schlafen.

Naja, Schlaf.. Muss dann schon ein sehr tiefer und unerholsamer/ destruktiver Schlaf sein..

Sie machen doch nicht nur jeden um sie herum kaputt, sondern auch sich selbst..
Gibt auch genug manifestierte Mechanismen mit denen man sich sein eigenes sowie andere Leben so richtig zur Hölle machen kann.

das stimmt. deshalb umso besser, wenn man sich dessen abgewöhnt und sich statdessen auf das Gute fokussiert. aka: sich selbst sein und tun, wonach einem ist. :)

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