Bindungen und Begegnungen - eine kleine Geschichte zur Adventszeit

in #deutsch8 years ago

Wieder einmal war der Dezember gekommen - die Zeit der Dunkelheit und Kälte, aber war es auch die sprichwörtliche "stille Zeit"? Für mich, mitten im Leben stehend, waren die beruflichen Anforderungen das bestimmende Element geworden. Den unerbittlichen Forderungen der zahlreichen Verantwortungen stand freilich das stärkende Gefühl des Erfolges gegenüber, so wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten als Führungskraft die Balance zwischen Profitabilität und Menschlichkeit halten zu können, war gleichermaßen anstrengend wie beglückend. Der Preis, den ich für dieses Engagement zu bezahlen hatte, bestand nicht nur in manch schlaflosen und gedankenschweren Nächten, sondern vor allem auch in sich lockernden Verbindungen zu Freunden und Bekannten.

Dezember - waren wir nicht früher immer in lustiger Runde für ein gemütliches Wochenende auf der urigen Hütte in Osttirol zusammen? Bei der Ankunft musste zunächst der alte Ofen angefeuert werden, und es vergingen einige rauchige Stunden, bis ein erster Anflug von wohliger Wärme in der romantisch-kerzenbeleuchteten Küche sich verbreitete. Doch Wein, Fernet Branca, Uozo oder sogar Feuerzangenbowle sorgten sogleich für Hitze von innen ...

Immer wieder verlangt das Leben von uns Menschen, Liebgewordenes loszulassen. In Hermann Hesse's Gedicht "Stufen" ist diese Tatsache perfekt beschrieben (Gedicht siehe Anhang). Vor einigen Jahren wurde uns der Pachtvertrag gekündigt. Doch die Erinnerung an die zahlreichen Erlebnisse, die diese Hüttenfahrten mit sich brachten, wird mir bleiben, zum Teil so deutlich, als seien sie erst gestern geschehen:

Da waren die vielen Gipfelsiege, die Gespräche bis tief in die Nacht, Ankes Gitarreneinlagen, üppige mehrgängige Festmenues, Stunden auf der Terrasse im prallen Sonnenschein, ...

... romantische Zweisamkeit, aber auch sterbende Liebe, ein winterlicher Aufstieg durch fast undurchdringliche Schneemassen und sogar lebensbedrohliche Situationen: Bei einer Bergtour musste ich eine völlig entkräftete Freundin mit meinen Händen am Gipfelgrat sichern, um sie vor einem Absturz zu bewahren.

Und bei einer Heimfahrt war mir jene schwere Fahrfehler unterlaufen, der mein Auto in Schrott verwandelte. Wie durch ein Wunder kamen ich und Anke jedoch mit dem bloßen Schrecken davon.

Die Kinder meiner Freunde konnte ich manchmal mit ein paar Zauberkunststückchen begeistern. Und Jonas, der damals 10-jährige, wurde von mir sogar auf einen richtigen Berglauf mitgenommen - wie stolz er doch war, als er nach fast zwei Stunden Laufen mit mir das Tauernhaus erreicht hatte !

Das Grundmotiv für all dieses Geschehen bestand für mich darin, mit wohlgesonnenen Menschen gemeinsame Zeit in der Natur zu verbringen. Das menschliche Leben ist ein langer Weg, der die Chance bietet, Erlebnisse und Erfahrungen zu sammeln, mit deren Hilfe die Persönlichkeit sich entwickeln und reifen kann. Wenn wir der Sprache des Lebens aufmerksam zuhören, erkennen wir Sinn und empfinden Geborgenheit und Glück.

Auf einer spätabendlichen Heimfahrt von der Arbeit waren meine Gedanken noch voll bei den Themen des vergangenen Tages. Plötzlich läutete mein Handy. Wer wollte denn nun schon wieder etwas von mir - und das noch zu so später Stunde? Eine mir unbekannt erscheinende männliche Stimme meldete sich:
"Hier Jonas - willst Du mein Firmpate werden?". Für einen Moment musste ich überlegen: Welcher Jonas? Und was bedeutet "Firmpate"? Erst durch das sich anschließende Gespräch wurde mir langsam klar, dass es sich um diesen Jonas handelte, mit dem ich vor vielen Jahren den Berglauf zum Tauernhaus gemacht hatte. Ich konnte es schier nicht glauben, dass gerade er ausgerechnet mich zu seinem Firmpaten machen wollte. Hatte ich bei den wenigen gemeinsamen Erlebnissen bei ihm so einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen und somit unwissentlich eine persönliche Bindung aufgebaut?

Jonas Anruf beschäftigte mich noch bis tief in die Nacht und ließ die beruflichen Alltagsprobleme in den Hintergrund treten. Ich fühlte mich geehrt und herausgefordert zugleich. Firmung hat etwas mit Glauben und mit Werten zu tun. Und mein Motiv, ihn damals mit auf den Berglauf zu nehmen, bestand vielleicht darin, ihm die Freude an der Natur und den Spaß an körperlicher Betätigung zu vermitteln.

Obwohl ich kein Kirchenchrist bin (und daher wahrscheinlich auch kein geeigneter Firmpate), bin ich mir sicher, dass es einen übergeordneten Plan für jeden einzelnen Menschen gibt, der die Lebenswege auf geheimnisvolle Weise leitet und lenkt. Ich werde bestimmt bei Jonas Firmung dabei sein und nehme mir auch vor, mit ihm nächstes Jahr die eine oder andere Unternehmung zu machen.

Anmerkung:
Meine Zeit auf der Hütte Raneburg 2 in Matrei Osttirol dauerte von 1983 - 2002. Die Bilder stammen vorwiegend aus jener Zeit.

(Bildquelle @https://www.clubosttirol.at/stampfer/figures/geburtshaus_matrei.jpg)

Anhang: "Stufen" von Hermann Hesse

Stufen (Hermann Hesse)

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

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Und allein der Hesse, diese Resonanz mit der eigenen Lebenserfahrung, immer wieder positiv ergreifend...Danke für diesen tollen und persönlichen Post von Dir, @freiheit50. Ich freue mich auf die nächste Gelegenheit nach München "entfliehen" zu können, um mit Dir anzustossen!

Danke für die geschichte und fotos! :)

Ja, echt nice!

Danke fürs Lesen!

Very nice excursion!

@kus-knee (The Old Dog)

Danke für die besinnliche Geschichte und das wunderschöne Gedicht

Schoener Beitrag. "Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!" - wie oft schon habe ich diesen Satz mir aufmunternd zugesprochen, und dabei hatte ich das ganze Gedicht schon laengst vergessen. Hesse und die Berge, das passt gut zusammen; Innehalten und weiterschreiten...

Wunderschöne Geschichte. Danke.