Vorurteil und Neuanfang
In lieblich klingende Worte hüllt mich meine Augenarzt ein. Sie sind mir eine Wohltat und klingen noch lange in mir nach.
Während mir mein Augenarzt die Tropfen für die Vorsorgeuntersuchung für den Grünen Star einträufelt, fragt er mich nach meinem Job. Die Tropfen müssen eine Minute wirken und ich darf die Augen schließen. Derweilen unterhält er mich, erzählt mir seine Geschichte.
„Als ich vor dreißig Jahren in der DDR studierte, mussten wir in verschiedenen Einrichtungen Praktikum machen. Für acht Wochen war ich in einem Pflegeheim. In einem Sechs- oder Zwölfbettzimmer waren die alten Menschen untergebracht. Lange Flure und Schlafsäle waren Normalität. Ein Waschbecken für alle. Das war nur mit einem dünnen Vorhang abgetrennt. Eine Dusche gab es am Gangende. Das war nicht schön. Die alten Menschen lagen da in ihren Betten und kamen auch nicht wieder raus. Wenn wir Studenten in den Semesterferien kamen, waren die Pflegekräfte überglücklich. Die meiste Zeit saß ich für jeweils fünf Minuten an den Betten und erzählte etwas. Damals dachte ich mir: Ich will lieber sterben, als in ein Heim gehen, wenn ich alt bin.“
‚Meine Güte, da wird mir beim Zuhören schon schlecht‘, denke ich. Kurz und knapp antworte ich nur: „Während meiner Kindheit wurden Altenheime im Volksmund auch Sieche genannt. Das sagt doch schon alles aus.“
Ich darf meine Augen für die augenärztliche Untersuchung wieder öffnen. Mein Arzt erzählt weiter.
„Moritzburg ist eine sehr schöne Gemeinde. Das Altenpflegeheim liegt direkt am Wald, in allerschönster Lage. Als ich dort kürzlich eine Patientin besuchte, war ich ganz überrascht. Meine Patientin hat ein Einbettzimmer, mit eigenem kleinen Bad. Wie eine kleine, hübsche Wohnung und sie empfindet ihre Umgebung als Zuhause, erzählt sie mir. Weiter berichtet sie: Wenn ich klingel, holen mich die Pfleger aus dem Bett und setzen mich auf mein Elektromobil. So kann ich mir die Gegend ansehen. Auch lässt man sich hier immer wieder etwas einfallen, damit keine Langeweile aufkommt. So gut hatte ich es zu Hause nicht. Für meinen glücklichen Lebensabend sorgen meine Kinder und dafür bin ich sehr dankbar.“
„Die Lebensqualität ist so hoch wie noch nie in Altenpflegeheimen. Wenn ich in die Lebensphase von Krankheit oder Demenz komme, würde ich heute doch in ein Heim gehen.“
Mit diesem schönen Geschenk verlasse ich die Arztpraxis. Immer wieder höre ich ähnliche Erkenntnisse von pflegenden Angehörigen bei meiner Arbeit.
Die gründliche Reflexion meines Augenarztes hat mich positiv überrascht. Für sein Vergleichen und sein Fazit bin ich ihm sehr dankbar. Ich traue der Zukunft viel Gutes zu!
Letztens habe ich "7 Tage im Altenheim" gesehen. ("7 Tage" ist eine Reihe des NDR, wo ein Fachfremder in einen bestimmten Beruf schlüpft, gefilmt wird usw.)
Da lief also dieser "Wochenpraktikant" mehr oder weniger hilfreich für das Stammpersonal mit, hat aber auch Kontakt zu den Bewohnern gesucht. Und da gab es halt diese Szenen, daß manche älteren Damen gleich merken, derjenige, der da gerade ein bißchen mehr Zeit hat, bleibt nur ein paar Tage da, und dann fragen "ja, aber warum ist es so kurz?"
Da habe ich mich wieder an meine eigene Woche in der Geriatrie erinnert. Ich fand, daß es da optisch nicht besonders krankenhausmäßig war. Aber vom Gefühl her für die Insassen wohl doch. :(
Danke für den Tipp mit der Filmreihe. Ich finde es macht einen riesigen Unterschied, ob man die Zustände für 7 Tage oder für 70 Tage erfährt. Mich regen Theoretiker tierisch auf, die dann auch noch meinen, den Pflegepersonal irgendwelche tollen Projekte überzustülpen. :-(
Mehr Bezahlung für die Pflegekräfte und natürlich ein besserer Pflegeschlüssel wären ein Punkt, den ich auszusetzen hätte. Ansonsten kann man wohl nicht mehr so viel meckern.
Ich habe diese Punkte auch auszusetzen. Aber ehe wir immer nur im meckern sind oder uns als Opfer sehen, finde ich es hilfreich den Blickwinkel zu verändern. Nur so kann ich mit Liebe meine Arbeit im Heim tun. Und das ist es, was die "Alten" an ihrem Lebensende verdient haben.