Paris, Traumziel so vieler Deutscher und beliebtes Fotomotiv von Spitzenpolitikern aus Berlin, droht in diesen Schicksalstagen an die Falschen zu fallen. |
Hört meine Worte, und bezeugt meinen Eid. Die Nacht zieht auf und meine Wacht beginnt. Sie soll nicht enden vor meinem Tod. Ich will mir keine Frau nehmen, kein Land besitzen, keine Kinder zeugen. Ich will keine Kronen tragen und keinen Ruhm begehren. Ich will auf meinem Posten leben und sterben. Ich bin das Schwert in der Dunkelheit. Ich bin der Wächter auf den Mauern. Ich bin der Schild, der die Reiche der Menschen schützt. Ich widme mein Leben und meine Ehre der Nachtwache, in dieser Nacht und in allen Nächten, die kommen.
Eid der Nachtwache
Die Reiche der Menschen, sie sind wieder einmal bedroht, akut bedroht. Im Süden sind die italienischen Postfaschisten aktiv, in Österreich reckt ein Rechtsradikaler sein Haupt. Ungarn ist schon länger verloren, Polen gerade zurückerobert, aber noch nicht für immer gesichert.
Im Norden sind Zweifel an Schweden angebracht, in den Niederlanden ist es tödlich still, nachdem die Demokratie auch dort in die Hände ihrer Feinde gefallen ist. Kein Laut dringt aus dem Land, seit es sich auf "radikal-rechten Kurs" (Der Stern) gemacht hat. Und nun versammeln sie sich auch noch hinter dem längst geschleiften Westwall, die französischen Faschisten, eben noch gute Freunde der gemeinsamen Werte und mit einem Schlag im Anmarsch, 75 oder mehr Jahre europäischer Friedensordnung in den Staub zu treten.
Nur noch Freunde am Rand
Deutschland, die größte Nation unter den 27 gleichen im gemeinsamen Europa, sie steht auf einmal wieder fast allein. Stürzt bald auch noch Amerika, steht Deutschland wie vor 80 Jahren allein im kalten Wind der Wirklichkeit, "die uns umzingelt" (Robert Habeck). Ein paar Mächte am Rand halten zur Stange. Spanien, Portugal, Griechenland, sie geben die Stellung nicht auf wie manch langjähriger Weggefährte, der die Nerven verliert und sich in eine bequemere Anschlussverwendung geflüchtet hat. Noch. Aber das Ende ist bekannt.
Die Signale sind nicht zu übersehen. Die Gegner von Fortschritt, Green Deal, Verbrennerverbot und Willkommenskultur, sie sammeln sich. Sie sammeln sich zum Sturm auf die Institutionen, die seit den ersten Montan-Verträgen den Weg zu immer mehr Europa geebnet und Kurs auf die Vereinigten Staaten von Europa gesetzt hatten. Frankreich kippt. Die Achse Berlin-Paris, unter dem Duo Olaf Scholz und Emmanuel Macron ein rostiges Stück Alteisen, sie quietscht und knirscht und sie kann jeden Moment brechen. Und der Rest Europas droht mitzufallen: Halb zog es ihn, halb sank er hin.
Zeichen setzen
Während die wenigen verbliebenen Aktivisten der großen Remigrationsdemonstrationen vom Jahresanfang nach Westen pilgern, um Zeichen zu setzen, bröckeln die Brandmauern ringsum. Mit letzter Kraft und gewieften Tricks nur konnten sich die Staatenlenker der Gemeinschaft nach dem Debakel der EU-Wahl noch einmal auf ein Weiterso unter der deutschen Kommissionschefin Ursula von der Leyen einigen. Schon dazu aber musste alles, was von der demokratischen Mitte übrig war, ohne Rücksicht auf das eigene Ansehen oder kommende Wahlen gemeinsame Sache machen.
Die erste Runde der Parlamentswahlen in Frankreich nährt allerdings ernsthafte Zweifel daran, ob Wählerinnen und Wähler es honorieren, dass immer dasselbe hinten rauskommt, ganz egal, wo sie ihre Kreuze machen. Beteiligt am - womöglich bereits letzten - Rettungspaket für die bei den Bürgerinnen und Bürgern so arg in Verruf geratene EU waren Christdemokraten, Liberale und Sozialdemokraten aller sozialistischen Sehnsuchtsstufen. Geht es nach dem abgewählten französischen Präsidenten Emmanuel Macron, sollen es dieselben Parteien in derselben Konstellation sein, die zusammen mit den Linkspopulisten verhindern, dass die Rechte die Macht in einem weiteren EU-Kernland an sich reißt.
Das bisschen Mitte
Das bisschen Mitte, verbündet mit den Linkspopulisten des Jean-Luc Mélenchon, der seine europafeindliche Bewegung die "Neue Volksfront" nennt, soll verhindern, dass die Reiche der Menschen noch weiter schrumpfen und die Regionen noch größer werden, in denen die Ideologie des Rechtspopulismus das Sagen hat. Nurmehr Deutschland, jenes von der Geschichte gebrannte Kind, widersteht der Versuchung, es nach allen denkbaren Kombinationen der traditionellen Koalitionsfarben mal mit einer ganz anderen Mischung anderem zu versuchen.
Hier, wo die Quantenmechanik selbst das Backhandwerk bestimmt, müssen Millionäre nicht vor rechten Scharfmachern fliehen. Hier, wo die globale Mindeststeuer regional durchgesetzt wurde, werden auch die kommenden desaströsen Niederlagen bei den Landtagswahlen niemanden länger als fünf Minuten darüber nachdenken lassen, wohin ein Weg führt, den immer weniger Menschen mitgehen.
Schild und Schwert
Die Wacht, sie wird nicht enden vor dem Tod, die SPD wie Grüne, FDP und Christdemokraten, sie sind nicht nur in Macrons Frankreich die Wächter auf den Mauern, das Schwert in der Dunkelheit und das Schild, das die Reiche der Menschen schützt. Sie sind auch bereit, ins eigene Verderben zu laufen und das über Jahre hinweg erwirtschaftete Vertretungs- und Anerkennungsdefizit bei der Mehrheitsbevölkerung so lange unbeachtet zu lassen, bis es selbst mit Hilfe der neugeschaffenen Linkspopulisten nicht mehr reicht, die unaufhaltsame Rechtsverschiebung in der politischen Landschaft aufzuhalten.
Nur noch um Zeit geht es, um das Warten auf eine jähe Wendung, von der weder Macron noch Scholz noch sonst irgendwer in einer der Parteizentralen der Traditionsparteien sagen könnte, worin oder woraus sie bestehen könnte. Ein Wirtschaftsaufschwung würde helfen, am besten etwas mit Wumms, das bis in die verbliebene dünne Schicht der Arbeiterklasse reicht, die als Avantgarde am häufigsten rechts wählt. Auch ein Kriegsende im Osten wäre nützlich. Wie die Sache mit der Wirtschaft aber sieht sich die Regierung auch hier seit Jahren außerstande, irgendeine Art von Initiative zu ergreifen.
Das Pferd soll sprechen lernen
Kommt Zeit, kommt Rat. Man kann sich der Realität sofort ergeben. Oder wetten, dass es gelingt, einem Pferd das Sprechen beizubringen. Entweder, es klappt. Oder es klappt nicht, das aber auf jeden Fall später. Wenn die Rechtspopulisten dann erst übernehmen, wird alles schlimmer werden. Die Wendung schärfer. Der Kurswechsel bei Migration, EU-Ausbau, Klimaschutz und Identitätspolitik so rasant, dass allerlei aus der Kurve zu fliegen droht.
Einen Plan B aber gibt es in Berlin so wenig wie in Paris.
Stattdessen ist in der deutschen Hauptstadt eine ähnliche Lust am Untergang zu spüren, wie sie auch Macrons Neuwahlentscheidung ausdrückte. Wenn schon, denn schon, und dann mit knallenden Türen. So wird gegangen, dass die Welt bebt.