Kolonialreich der EU: Wo die Sonne niemals untergeht

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Die EU unterhält bis heute ein prächtiges weltumspannendes Kolonialreich, das bei die zuständigen Mitgliedsstaaten unter dem unverfänglichen Namen "Überseegebiete" geführt wird.
 

Es ist Ausnahmezustand, nicht irgendwo am Rande der EU, sondern mittendrin. Aber Neukaledonien ist nicht Georgien, es ist auch nicht Israel. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der indigenen Bevölkerung der französischen Kolonie gelten deshalb in Brüssel wie in Berlin als strikt zu vermeidendes Thema.

Sie nennen es vorsichtig "Überseegebiet", auch wenn es sich faktisch um eine der verschwiegenen Kolonien der Europäischen Union handelt. Dank früherer Bemühungen der Niederlande, von Spanien, Dänemark, Portugal und Frankreich verfügt die EU bis heute über Auslandsniederlassungen auf vier Kontinenten. Ein Weltreich, über das in Zeiten des Antikolonialismus weniger gern gesprochen wird als über die Kolonialmacht Israel. Offiziell bezeichnet die EU die angeschlossenen Exklaven als "Regionen in äußerster Randlage", das allein schon offenbar einen euro-zentristischen Blick. 

Außengrenze im Indischen Ozean

Doch von Guadeloupe über Französisch-Guayana, Martinique, Mayotte, Réunion und St. Martin über die Kanarischen Inseln, die Niederländischen Antillen bis zu den Azoren leben alle recht kommod damit. Frankreich sorgte zuletzt vor zehn Jahren für eine EU-Erweiterung der besonderen Art: Mit Mayotte stieß ein tropisches Inselparadies, gelegen zwischen Mosambik und Madagaskar vor der Küste Afrikas, zur Runde der Wertegemeinschaft, die seitdem eine neue Außengrenze im Indischen Ozean hat.

In Neukaledonien allerdings brodelt es derzeit. Das französische Überseegebiet, 1774 vom Briten James Cook entdeckt und 1853 von Napoleon III in französischen Besitz genommen, liegt weiter vom Mutterland entfernt als jeder andere EU-Außenposten. 16.600 Kilometer sind es von Paris bis zur Insel, die immerhin siebenmal so groß ist wie das berühmte Saarland, das Frankreich nach einer Volksbefragung in den 50er Jahren wieder an den Nachbarn Deutschland verloren hatte. 

Entsetzte Besucher

1.500 Kilometer vor Australien leben die Nachfahren der Verbrecher, die erst die Briten und später die Franzosen auf das Eiland abschoben. Aber auch die Nachfahren der Ureinwohner, von deren Sitten und Gebräuchen die ersten Besucher aus Europa Fürchterliches berichteten.  Die Grande Nation hat ihre Eroberung im Pazifik dennoch nie hängenlassen. Sie dezimierte die Kanaken - Neukaledoniens Ureinwohner - durch eingeschleppter Seuchen, gab ihnen Kriminelle und Staatsfeinde und nahm ihnen das auf der Insel reichlich vorkommende Nickel. Die immer wieder aufmuckende einheimische Bevölkerung wurde durch ein Apartheid-ähnliches System ruhiggestellt, die Ureinwohner durften dafür aber schon im Ersten Weltkrieg Soldaten für Frankreich stellen.

Nicht allen gefiel das offenbar. Immer wieder gab es Aufstände der Kanaken, selbst noch nachdem Frankreich die Kolonie nach dem Zweiten Weltkrieg zum Übersee-Territorium erklärt und allen Einwohnern die französische Staatsangehörigkeit verliehen hatte. 1947 akzeptierte die UNO die Fremdherrschaft. 1953 erhielten die Neukaledonier die französischen Bürgerrechte und 1957 durften sie sogar ein lokales Parlament wählen, das allerdings ein Jahr später auf Geheiß Charles de Gaulle schon wieder zu einer Art Folkoreveranstaltung herabgestuft wurde.

Schlag gegen Unabhängigkeit

Aus Deutschland, das seine wenigen Kolonien nie zu Überseegebieten erklären konnte, weil sie schon verloren waren, als diese Lösung Mode wurde, wird Frankreich um sein Pazifikparadies beneidet. Wie viel Ärger und Arbeit der Erhalt eines solches kolonialen Erbes aber braucht, zeigt sich in diesen Tagen, in denen eine geplante Verfassungsreform aus Sicht der Kanaken droht, alle künftigen Unabhängigkeitsbestrebungen zunichtezumachen.

Geht es nach der Regierung in Paris, bekommen Tausende französischstämmige Bürgern das regionale Wahlrecht - die Chance, es besser zu machen als beim letzten Referendums, bei dem 56,4 Prozent der Wähle für den Verbleib bei Frankreich stimmten, wäre für alle Zeit dahin.

Ausnahmezustand in der EU

Nach gewalttätigen Ausschreitungen, etlichen Toten und einer Lagem, die außer Kontrolle geraten war, hat Frankreich nun den Ausnahmezustand verhängt und wieder Soldaten geschickt, die die Unruhen beenden und Ruhe und Ordnung wiederherstellen sollen. Zum Glück mussten die Truppen nicht komplett aus der Heimat eingeflogen werden, Frankreich verfügt im nur 4.500 Kilometer entfernten Polynesien über eine Eingreiftruppe der Nationalgendarmerie, die zu Hilfe eilen konnte. Der Rat der Kanaken warf der französischen Regierung inzwischen vor, den Widerstand der großen Mehrheit der indigenen Bevölkerung durch Internet- und Ausgangssperren und Demonstrationsverbote unterdrücken zu wollen. Der internationale Flughafen ist derzeit geschlossen. 

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich noch nicht zum Aufstand mitten in der Gemeinschaft der 27 geäußert, auch der Außenbeauftrage Josep Borrell, zuständig für "Ein stärkeres Europa in der Welt", schweigt angestrengt. Ebenso halten es Vizekommissionschefin Dubravka Šuica (Demokratie und Demografie), Didier Reynders (Justiz), Ylva Johansson (Inneres), Janez Lenarčič (Krisenmanagement), Olivér Várhelyi (Nachbarschaft und Erweiterung) und Jutta Urpilainen (Internationale Partnerschaften). Auch Berlin, wo große Sorgen um zu viel Transparenz in Georgien und den Schutz der Hamas vor israelischen "Vergeltungsaktionen" (Taz) das Tagesgeschäft bestimmen, ist bisher stumm geblieben.

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