Die Straßenmusikantin

in #deutsch5 years ago (edited)

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Es war schon fast halb drei, als der Verkäufer endlich einen Moment fand, um Mittagessen zu gehen. Es war einer dieser Tage. Jemand hatte den Scheißemagneten angemacht. Kunden, die einfache Dinge unnötig kompliziert machten, die schlechte Laune hatten und das auch jeden merken ließen. Fehlbestände, zu viel Logistik im Geschäft und Lager, so wie genervte Kollegen hätten das Bild bereits komplettiert, wenn da nicht noch ein Chef gewesen wäre. Das alles schwirrte in seinem Kopf herum, als er auf die fast leere Fußgängerzone trat. Es war feucht und kalt und in den Gesichtern der Menschen, die ihm entgegenkamen, spiegelte sich seine Stimmung wider. Er zog den Kopf ein, steckte die Hände in die Manteltaschen und stapfte in Richtung einiger Fresstempel.
Er bog um eine Ecke und dann hörte er es ganz deutlich, Akkordeonmusik, die von einer rauen Frauenstimme begleitet wurde. Schrecklicher Lärm, jede Note zupfte an seinem überspannten Geduldsfaden. Auf gleicher Höhe mit der Straßenmusikantin erkannte er, dass sie französisch sang. Eine scheiß Sprache, kein Wunder, das dieses Land keiner leiden konnte. Im Vorbeigehen musterte er die Musikerin, wilde rote Haare über einem derben braunen Gesicht und eine riesige Daunenjacke, aus der zwei dünne Beinchen ragten. Die ganze Stadt voller Zigeuner, verjagen sollte man das ganze Pack. Die Musik wurde wieder leiser, als er sein Ziel erreichte.
Zwischen den Buden hörte er wenigstens diese akustische Umweltverschmutzung nicht mehr. Zielsicher schritt er zu seinem Stammmetzger und bestellte das Übliche, zum Mitnehmen. Er wollte so schnell wie möglich wieder raus aus dem Gedränge, zurück in den leeren, stillen Pausenraum. Nach etwa fünfzehn Minuten und einigen belanglosen Worten mit einer der Angestellten verließ er mürrisch den fröhlichen Trubel.
Wieder kam ihm die nervtötende Musik entgegen. Schnell daran vorbei und den Rest der Pause in Ruhe verbringen, dachte er sich, als er sah, dass die Akkordeonspielerin nicht mehr alleine war. Eine alte Frau mit Rollator stand direkt vor der jungen Frau mit ihrem Musikinstrument. Gedrungen und bucklig stand die Alte da, eine rote Baskenmütze auf dem Kopf. Sie wiegte sich leicht im melancholischen Takt der Musik und ein verträumtes Lächeln spielte in ihrem Gesicht. Der Verkäufer fühlte, wie Wärme aus dem traurigen Dreivierteltakt emporstieg, woran erinnerte sich die alte Frau? An eine Reise nach Paris, vielleicht ihre Hochzeitsreise? Vielleicht dachte sie an ihre Heimat? Und während seine Gedanken damit spielten, was diese Musik wohl für andere bedeuten mochte, entspannten sich seine Nerven. Er verstand kein Wort, das die rauchig warme Stimme sang, aber ihr Klang begleitete ihn bis in den leeren Pausenraum. Mit der Melodie der bretonischen Straßenmusik immer noch im Kopf bemerkte er, dass sich seine Laune besserte, noch bevor er den ersten Bissen genommen hatte.

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