Pura Lempuyang ist kein normaler Tempel, den man einfach mal so besuchen fährt. Dieser Tempel liegt auf dem Gipfel eines Berges, zu dem ein 1.700-stufiger Treppenpfad führt. Nimmt man es genau, so sind es nicht ein Tempel, sondern sieben. Der erste Tempel befindet sich am Einstieg der 1.700 Stufen, der Siebte am Ende der Stufen und zugleich am Gipfel des Berges.
Ekkard, mein Gastgeber, klärt mich auf, dass es zwei Wege gibt, um zum Einstieg der 1.700 Stufen zu kommen. Man kann mit dem Auto direkt hinfahren, das wäre die einfache Variante. Oder man wählt die interessantere Variante, die er mir wie folgt erklärt: »Du fährst bis zum Ende des Tales, parkst dort dein Auto unter dem großen Baum und gehst einfach auf den Berggrad zu, dahinter ist irgendwo der Tempel. Habe Mut und vertraue auf den großen Geist! Du wirst zwar ein paar erstaunte Blicke ernten. Aber dafür wirst du einzigartige Erlebnisse haben und durch richtige balinesische Dörfer kommen.« Vertraue auf den großen Geist? Marschiere ins Unbekannte? Ich muss nicht lange überlegen, welche Variante ich wählen soll.
Ein paar Minuten später sitze ich in meinem Wagen. Mit dem Auto geht es in das kleine, enge Tal hinein. Die Straße verläuft direkt an der Bergseite entlang. Der Talboden wird von Reisterrassen bedeckt, die in solch prächtigen und unterschiedlichen Grüntönen hervorleuchten, dass mir die Worte fehlen, um sie angemessen zu beschreiben. Ich fahre durch ein paar kleine Dörfer hindurch, sehe Reisbauern, junge Männer auf Motorrädern, Frauen beim Wäschewaschen und alte Männer die im Schatten von großen Bäumen sitzen und mich beäugen.
Nach einiger Zeit komme ich zu dem von Ekkard vorgeschlagenen Parkplatz unter dem großen Baum, doch die Straße geht noch weiter. Warum sollte ich dann schon hier parken? Besser dem Weg noch weiter entlangfahren und dafür weniger weit marschieren.
Nach ein paar Metern verstehe ich jedoch, warum ich unter dem großen Baum parken hätte sollen. Die Steigung nimmt zu, die Straße wird schmäler und es verändert sich auch langsam der Straßenbelag. Jetzt würde ich mir wünschen auf rumänischen Straßen zu fahren und jeder, der schon einmal durch Rumänien gefahren ist, weiß was das bedeutet. Die drei Faktoren – Steigung, Schmäle, Belag – verschlimmern sich zunehmend. Ein Umdrehen ist jetzt nicht mehr möglich. Es geht nur noch weiter, in der Hoffnung irgendwo einen Wendeplatz zu finden.
Dann passiert es. Mitten in einer schlimmen Steigung bleibt das Auto hängen. Es geht nicht mehr weiter, keinen Zentimeter. Die Räder gehen durch. Ein Rückwärts fahren ist unmöglich. Ein steiniger Serpentinenpfad mit einer Breite von zwei Metern liegt hinter mir, der schon vorwärts schwer zu meistern war.
Ich steige aus und begutachte die Lage. Die Straße gleicht der in Marmorsteinbruch von Carrara: Staub, Sand und Steine mit einem Durchmesser bis zu 20cm. Dazu kommen noch die immense Steigung und ein Schlagloch mit 30cm Tiefe. Die Straße hier verwenden nur Fußgänger.
Während ich ratlos und schwitzend in der Sonne stehe, kommen schon ein paar Balinesen dahergelaufen. Sie sprechen kein Wort Englisch, aber sie wollen mir irgendwie helfen. Aber auch das Schieben bringt nichts. Darum gehen sie wieder ihres Weges und lassen mich mit dem Auto zurück. Ich starte einen neuen Versuch, indem ich den Wagen ein paar Meter zurückrollen lasse und dann mit einem Rad auf der Böschung und mit dem anderen am Rand des Schlagloches mit Vollgas nach oben fahre. Irgendwie klappt es. Hier, im Nirgendwo, wo niemand mit einem Auto hinfährt, merke ich, wie einem nur noch der »große Geist« helfen kann. In Europa hat man sein Mobiltelefon bei sich und weiß, dass man jederzeit den Pannendienst rufen kann, der einem das Auto wieder mobil macht. Doch hier wird mir so richtig bewusst, dass diese Sicherheit nur eine Illusion ist und man schlussendlich doch auf sich selbst gestellt ist.
Die Straße wird nicht besser. Ich fahre weiter und es kommt ein Haus mit einer kleinen Einfahrt in Sicht. In dieser Einfahrt könnte ich das Auto wenden, denke ich mir. Ich bleibe vor dem Haus stehen, steige aus und frage den Besitzer, ob ich hier Wenden darf. Doch er versteht mich nicht. Er nimmt nur einen Stein in seine Hand, kniet nieder, schreibt damit etwas auf den Boden, gestikuliert herum und lächelt dabei freundlich. Auch wenn er freundlich lächelt, hilft mir das nicht wirklich weiter, denn er räumt mir die Einfahrt nicht frei. Ich brauche einen anderen Plan. Vielleicht wird die Straße ja bald besser, denke ich mir. Ich lasse das Auto auf dieser nicht befahrenen Straße stehen und marschiere los um zu sehen, ob die Straße weiter oben eine Wendemöglichkeit bietet.
Der freundliche Balinese kommt mit und redet und gestikuliert dabei immer weiter. Ich lächle zurück und sage ein paar Mal »Lempuyang«, begleitet von einer Geste auf den Berg, wo der Tempel sein sollte.
Nach guten hundert Metern kommt tatsächlich eine Kreuzung, wo ich wenden und parken kann. Das könnte meine Rettung und die des Leihwagens sein. Beim Zurückgehen räume ich die gröbsten Steine aus der Fahrbahn. Der freundliche Balinese sieht das, und macht es mir nach. Allerdings legt er die Steine nicht zum Rand, so wie ich es mache, sondern wirft sie einfach voller Schwung über den Abhang. Unten stehen Häuser, doch das kümmert ihn nicht. Er lächelt einfach weiter. Als ich weiterfahre, winkt er mir freundlich nach. Bali ist anders.
Ich parke das Auto an der Kreuzung und gehe zu Fuß auf der steinigen Straße weiter, die mich quer durch ein paar Dörfer führt. Ekkard hatte Recht. Ich würde wirklich ein anderes Bali erleben. Kleine Häuser sind in die Hänge gebaut. Phantasievolle Elektroleitungen bringen den Strom dorthin. Hühner laufen frei herum. Alle paar Meter sieht man einen Altar und Opfergaben. Die Leute bauen an ihren Häusern herum. Sie stehen auf steilen Hängen am Feld oder sitzen vor den Türen. Jeder lächelt und winkt. Ein kleiner Junge kommt mir entgegen, der eine Ladung Gras auf dem Kopf trägt. Der Grasballen lässt ihn fast verschwinden. Ein Vater, der ein wenig Englisch kann, möchte sich gleich als Heiratsvermittler betätigen und ruft mir auf Englisch zu: »Ich habe eine schöne Tochter. Komm, schau!« Ich winke dankend ab und spaziere weiter.
Es gibt keine Karte aber viele Abzweigungen. Ich entwickle eine Strategie, um zum Ziel zu kommen. Bei jeder Abzweigung warte ich, bis jemand kommt und sage »Lempuyang« und deute schulterzuckend nach links und rechts um zu sehen, wie sie reagieren. Nach ein paar Stunden komme ich auf diese Art wirklich zum Tempeleingang.
Will man in eine Kirche, muss man seinen Hut abnehmen. Will man in eine Synagoge, muss man einen Hut aufsetzen. Will man in eine Mosche, muss man seine Schuhe ausziehen. Und will man in einen Hindu-Tempel – ja, dann muss man sich einen Wickelrock – den Sarong – umbinden, den man gegen ein kleines Entgelt mieten kann und umgebunden bekommt. Passend bekleidet mache ich mich auf den Weg die 1.700 Stufen zu erklimmen.
Ich betrete den ersten Tempel am Fuße der Stufen. Es findet gerade eine Zeremonie statt. Räucherstäbchen sind angezündet. Ein Singsang ertönt. Die steinernen Statuen sind mit bunten Bändern und Fähnchen geschmückt. Überall wimmelt es von Menschen in weißer Kleidung. Priester sitzen vor dem Altar und bringen kleine Gaben dar. Menschen sitzen am Boden und beten. Neugierig beobachte ich, was die gläubigen Menschen machen, als mich eine Balinesin auf Englisch anspricht und mir die Bedeutung der Zeremonie erklärt. Ich habe nichts von ihrer Erklärung verstanden, doch ich lächle freundlich. Da bedeutet sie mir ganz energisch, dass ich mich schleunigst auf den Boden setzten soll. Kaum setze ich mich nieder, kommt schon ein Priester vorbei. Mit einem Büschel in seiner Hand spritzt er Weihwasser auf mich, während er etwas Unverständliches murmelt. Dann leert er mir das Wasser aus der Schale in meine Hände und sagt mit ernster Miene: »Trink!« Ich trinke nicht. Wie kann ich nur das geweihte Wasser verschmähen, spricht es aus seinen Augen. Doch die europäische Angst vor Krankheiten ist für mich Grund genug es nicht zu trinken. Für ihn jedoch nicht. »Trink!«, sagt er nochmals mit gebieterischer Stimme und sieht mich dabei ernst an. Da führe ich die Hände zum Mund, und gieße das Wasser unauffällig in mein Hemd hinein. Er füllt meine Hände nochmals nach und stapft dann befriedigt zum Nächsten weiter.
Ich begleite die Balinesin – eine Englischlehrerin, wie sich herausstellt – und ihre Familie bis zum nächsten Tempel. Dort scheint für die Balinesen nicht der Tempel die Hauptattraktion zu sein, sondern ich. Denn plötzlich möchten sie ein Foto mit mir machen. Ehe ich mich versehe, setzt sich der alte Großvater neben mich hin und lächelt zahnlos. Sein Enkelkind wird mir auf den Schoß gesetzt. Und die Smartphones beginnen zu glühen, so viele Fotos werden geknipst.
Nach dem Fototermin verlasse ich die Familie und mache mich auf den Weg zum 7. Tempel, indem ich beginne, die 1.700 Stufen zu bezwingen. Jede dieser Steinstufen hat eine andere Höhe und wurde vor ewigen Zeiten – so scheint es – in den Berg gemeißelt. Stufe für Stufe kämpfe ich mich durch den Dschungel nach oben. Die tropische Hitze tut ihr Übriges. Mein Kopf rebelliert. Er will mir einreden, dass ich auch hier auf halber Höhe ein Foto machen kann und gefälligst wieder umdrehen soll. Doch ich will auf den Gipfel. Immer wieder reden Balinesen mit mir, sichtlich erstaunt einen Touristen hier zu sehen. Alle paar hundert Stufen gibt es einen kleinen Stand, wo Händler Wasser, Suppe oder Kartoffelchips verkaufen. Als die Händler und die Stände dichter werden und fast nichts mehr vom Weg übrig lassen, merkt man, dass man sich dem Gipfel nähert.
Aber die Mühe hat sich eindeutig gelohnt. Die Aussicht vom Gipfel ist umwerfend. Ich kann sogar mein Auto als kleinen Punkt in der Ferne schimmern sehen; zumindest bilde ich mir das ein. Da ich oben bin, kann ich mich jetzt gemütlich in den Schatten des Tempels setzen und meine mitgebrachten Bananen verspeisen – denke ich mir. Denn andauernd wollen Leute Fotos mit mir machen. Anscheinend bin ich hier als einziger Weißer die wirkliche Touristenaktion.
Trotz der vielen Fotos kann ich mein Mittagessen doch irgendwie beenden und beginne wieder mit dem langen Weg nach unten. Nach ein paar Metern bin ich mit zwei jungen Balinesen ins Gespräch vertieft. Da schleicht sich ein Affe an die Tasche meines Gesprächspartners heran. Blitzschnell zieht er ihm den Essensbeutel aus der Tasche heraus. Als der Balinese dem Affen die Tasche wieder nehmen möchte, faucht dieser ihn böse an. Der Balinese dreht sich nach einem Holzstecken um, doch das schreckt den Affen nicht. Anstatt wegzulaufen, zieht der Affe fest mit beiden Händen an seinem Sarong. Ein kurioses Bild. Nach langem hin und her nimmt der Besitzer die Tasche – und der Affe das Essen.
Ich marschiere den langen Weg zurück zu meinem Auto, fahre ins Hotel und ziehe endlich die Stiefel aus. Was für eine Wohltat. Seit einigen Stunden schmerzen mir schon die Füße. Ein Blick auf die wunden Fersen sagt mir, dass ich die nächsten Tage nur noch Flip-Flops tragen werde. Ich glaube in Österreich könnte man dafür sogar in den Krankenstand gehen.
2/9/12
Dann laß ich mal nen schönen Gruß aus Graz und ein "follow" da. ;)