Wie läßt sich entscheiden, ob man es bei einem Regierungssystem mit einer Demokratie zu tun hat oder nicht? Dazu müßte der Begriff noch genauer definiert werden. Wenn wir die antike Demokratie, die zunächst als prägend für den Begriff zu gelten hat, analysieren, können wir folgende Punkte zu einer möglichen Klassifizierung zusammenfassen:
- Autonomia.
Dieser Begriff, den wir als Autonomie kennen, kommt von autos - Selbst und nomos – Recht/Gesetz. Gemeint ist das Leben nach dem eigenen, lokalen Recht, das man auf Englisch law of the land nennt. Das Gegenstück davon ist die Fremdherrschaft. Die Griechen bezogen sich hier deutlich auf die Herrschaft durch Fremde, d.h. Menschen anderer Herkunft als die der eigenen Deme. Das erklärt, warum Perikles große Popularität gewann, indem er alle von der Bürgerliste strich, die ihre athenische Herkunft nicht bis in die dritte Generation nachweisen konnten. Dieser Akt wurde als urdemokratisch gelobt. Offenheit gegenüber Fremden galt als charakteristisch für ein Imperium, nicht für eine Demokratie. - Isonomia.
Der Begriff, von isos – gleich – und nomos, bezeichnet die Gleichheit der freien Bürger vor dem Recht. In einer Demokratie hat kein freier Bürger gegenüber einem anderen Vorrechte, schon gar kein Funktionär. Gesetze müssen aufgrund ihres Vertragscharakters für alle gleich gelten. In seiner berühmten Rede zum Peloponnesischen Krieg betonte Thukydides: Unsere Verfassung wird Demokratie genannt, weil die Macht nicht in den Händen einer Minderheit liegt […]. Jeder ist gleich vor dem Recht; wenn in einer Position öffentlicher Verantwortung eine Person einer anderen vorgezogen wird, dann zählt nicht die Mitgliedschaft zu einer besonderen Klasse, sondern die tatsächliche Fähigkeit dieses Mannes. - Abwesenheit von Tributen. Ein Tribut ist unfreiwillige Zahlung an eine Körperschaft außerhalb der eigenen Deme. Tribute werden in tyrannischen Imperien bezahlt, nicht jedoch in einer Demokratie. In der Spätphase des römischen Reiches galt es als klares Zeichen des Endes der Republik, als die Bürger der Stadt Rom an einen Illyrischen Bauern (Galerius) mit Herrschaftssitz in Asien steigende Steuern abzuführen hatten.
- Kleinräumigkeit.
Als demosios galt nur, was sich auf konkrete Öffentlichkeit der Heimatgemeinde bezog. Die Polis, das gute Gemeinwesen, dürfe höchstens so groß sein, daß sie vom Versammlungshügel aus vollständig überblickt werden kann. Großräumigkeit und Zentralisierung waren klare Zeichen einer Tyrannis.
Herrschaft des Rechts.
Wenn einzelne, viele oder gar die Mehrheit gegen das nomos handelten, dann sprach man von einer Tyrannis. In der Demokratie wird das Gesetz in dieser ursprünglichen Bedeutung nicht von den Bürgern gesetzt, sondern gepflegt, geschützt und angewandt.
- Teilhabe an der Regierung.
Unter obigen Bedingungen war Demokratie definiert als die Beteiligung von möglichst allen Bürgern an der Aufrechterhaltung der Ordnung in ihrem Gemeinwesen. Die Delegation dieser Verantwortung für längere Zeiträume an einzelne hätte als zutiefst undemokratisch gegolten.
Hätten wir heute einen antiken Philosophen zu Gast, wie würde er unser Regierungssystem beschreiben? Nun können sich Betonungen und Begriffe über die Zeit ändern. Es ist jedoch überaus seltsam, daß uns das Urteil eines solchen historischen „Demokratieexperten“ derart überraschen würde. Es steht nämlich außer Zweifel, daß er die derzeitigen Lebensverhältnisse nicht nur als mangelhafte Demokratie beschreiben würde. Ein antiker Philosoph würde nach tieferem Studium wahrscheinlich zum Schluß gelangen, daß unsere „Republiken“ und „Demokratien“ das glatte Gegenteil der historischen Formen darstellen. Er würde vermutlich von einem tyrannischen Imperium sprechen und dies keinesfalls polemisch meinen oder als provokative Übertreibung verstehen. Angesichts der besonderen Wertschätzung, die der „Demokratie“ heute zuteil wird, überrascht dieses Urteil und hinterläßt wohl einige Verwirrung. Um die Verwirrung etwas aufzulösen, muß diese Analyse noch wesentlich weitergeführt werden.
An dieser Stelle werden die meisten aufhören zu lesen, daher ist es ab jetzt nur noch für diejenigen gedacht, die unvoreingenommen verstehen wollen.
Kritik der Demokratie
Unser wiederbelebter Philosoph hätte noch mehr Überraschungen auf Lager. Wir würden erwarten, daß er uns nun eine Predigt über die Vorzüge der antiken Demokratie hält und zur Umkehr mahnt. Doch, während Politiker wie Thukydides den Begriff Demokratie positiv besetzten, finden wir bei den Philosophen fast einstimme Ablehnung. Wenn man die Ideengeschichte unvoreingenommen betrachtet, fällt auf, daß fast alle großen Denker, nicht nur in der Antike, sondern bis zur Moderne der Demokratie sehr kritisch gesinnt waren. Die Kritik der Demokratie fängt schon in der Antike an, wo wir eigentlich deren reinste Form zu finden hofften. Unser Gast aus einer anderen Zeit würde wohl viel weniger überrascht sein als wir selbst. Vermutlich würde er ausrufen: Es mußte ja so kommen! Das habe ich doch schon vor Zweitausend Jahren erklärt!
Für praktisch alle antiken Philosophen von Rang galt die Demokratie als Verfallsform. Nur der Historiker Polybius kontrastierte die Demokratie positiv mit der Verfallsform, die er Ochlokratie, die Pöbelherrschaft, nannte. Aber sogar der Gründer der attischen Demokratie, Cleisthenes, sprach nur von Isonomia und nicht von Demokratie – gerade das kratein, das übereinander Herrschen wollte er ja überwinden.
Für die meisten waren Demokratie und Pöbelherrschaft synonym, auch wenn der Pöbel unterschiedlich groß sein konnte. Platon sah die Demokratie als Übergangsstufe zu immer Üblerem und suchte stattdessen nach einer Timarchie – einer ehrliebenden Verfassung. Aristoteles stellte die Demokratie als Verfallsform der gerechten Form der Politie gegenüber – also die Art und Weise, wie eigentlich eine Polis regiert werden sollte.
Thomas von Aquin führte Aristoteles berühmte Unterscheidung der Regierungsformen weiter. Dabei werden drei gerechte Formen drei ungerechten Verfallsformen gegenübergestellt. Dessen klare Zusammenfassung soll hier ausführlich zitiert werden:
Wenn nun eine ungerechte Herrschaft durch einen geübt wird, der seinen eigenen Vorteil in der Regierung verfolgt, nicht aber das Wohl der ihm untergebenen Gesellschaft, so wird ein solcher Herrscher Tyrann genannt. […] Wird eine ungerechte Herrschaft nicht von einem einzelnen, sondern von mehreren, und zwar von wenigen geübt, so wird sie Oligarchie genannt, das heißt die Vorherrschaft einiger weniger. […] Wenn aber die ungerechte Regierung von vielen geführt wird, so heißt das Demokratie, das ist Volksherrschaft, in der die breite Masse durch die Macht ihrer Überzahl die Reichen unterdrückt. Dann wird das ganze Volk wie ein einziger Tyrann sein. Ähnlich müssen wir auch die Arten einer gerechten Regierung auseinanderhalten. Wird sie nämlich durch eine Mehrheit ausgeübt, so heißt sie mit einem allgemeinen Ausdruck Politie, wenn etwa eine Vielzahl von Kriegern in einer Stadt oder Landschaft die Führung hat. Ruht sie in der Hand von wenigen Männern, die aber durch ihre Begabung hervorragen, so nennt man eine derartige Regierungsform Aristokratie, das bedeutet beste Herrschaft oder Herrschaft der Besten (die man auch Optimaten nennt). Wenn aber die gerechte Herrschaft einem einzigen zusteht, wird dieser im eigentlichen Sinne des Wortes König genannt. So sagt der Herr durch Hesekiel (Kap. 37, 24): „Mein Knecht David wird König über alle sein. Und er allein wird ihnen allen ein Hirte sein.“
Hiermit ist deutlich gezeigt, was zu dem Begriff des Königs gehört: einer zu sein, der anderen als Herr vorangesetzt ist und doch wie ein Hirte wirkt, indem er das Gemeinwohl der Gesellschaft, nicht aber seinen eigenen Vorteil im Auge hat. (De regno – Über die Herrschaft der Fürsten)
Interessant ist die wiederum auf Aristoteles beruhende Reihung dieser Formen. Von den gerechten Formen sei das Königtum die beste, denn vereinte Kraft sei zur Herbeiführung des Guten wirksamer als zersplitterte oder geteilte. Wie es also nützlicher ist, daß eine zum Guten gewendete Kraft mehr eins sei, damit sie desto eher die Kraft hätte, das Gute zu bewirken, um so schädlicher ist es, wenn eine dem Bösen zugewandte Kraft eins statt geteilt ist. Aus diesem Grund, so argumentiert der heilige Thomas, sei die Demokratie noch das geringste Übel. Heute sind wir dazu geneigt, ein „geringstes Übel“ schon als positiv zu bewerten. Gemeint ist natürlich das geringste der Übel und damit klarer weise etwas, das von Übel und unbedingt zu vermeiden ist. Wie daher bei der gerechten Herrschaft die Regierung je einheitlicher, um so nutzbringender und also das Königtum besser als die Aristokratie, diese aber besser als die Politie ist, so wird bei einer ungerechten Herrschaft das Gegenteil eintreten; je einheitlicher die Regierungsgewalt ist, um so mehr Schaden wird sie stiften können. So ist eine Tyrannis noch schädlicher als eine Oligarchie, eine Oligarchie wieder schädlicher als eine Demokratie. (De regno, lib. 1 cap. 4) Die Demokratie richte also weniger Schaden als die Tyrannis eines einzelnen an, weil sich zumindest widerstrebende Parteien etwas in Schach halten.
Dieses zweifelhafte Zugeständnis ist jedoch das schwächste Argument bei Thomas von Aquin. Denn die moralische Reihung ist fragwürdig. Es geht um die Frage: Ist es weniger schlimm, wenn hundert Menschen einem oder wenn einer hundert Menschen Ungerechtigkeit antun? Die meisten würden heute wohl dazu neigen, es als schlimmer zu beurteilen, daß hundert Menschen Ungerechtigkeit widerfährt. Doch dies erklärt sich aus der modernen Konditionierung durch den Utilitarismus. Dem heiligen Thomas müßte es viel schlimmer erscheinen, daß hundert Menschen zu Verbrechern werden als bloß einer – und sei dessen Verbrechen noch so groß. Dieses Argument stammt von einem der ganz wenigen modernen Demokratiekritiker, Erik Ritter von Kuehnelt-Leddihn, und erinnert an Ciceros oben zitierte Argumentation, daß die Mehrheitstyrannis noch schlimmer als die Tyrannis eines einzelnen sei.
Abgesehen von der Ablehnung der Demokratie aufgrund ihrer eigenen Mechanismen, die die Vielen gegenüber den Wenigen aufwerten, ist der Kern der antiken Demokratiekritik auf die Dynamiken gerichtet. Selbst wenn die Demokratie selbst erträglich wäre, führe sie notwendigerweise zu immer unerträglicheren Verhältnissen.
Platon beschreibt diese Dynamik des Übergangs von Regierungsformen sehr schön:
Eine Demokratie entsteht […] wenn die Armen nach gewonnenem Siege einen Teil der anderen Partei ermorden, einen Teil verbannen und dann die Übriggebliebenen gleichen Anteil an der Staatsverwaltung und den Staatsämtern nehmen lassen.
Die Folge sei der zunehmende Verlotterung der Sitten und die Herrschaft der Lüge: Haben aber diese Lügen und neumodischen Grundsätze die Seele […] von jenen Tugenden geleert und gesäubert, da führen sie hierauf dann ausgelassenen Frevelmut, Zügellosigkeit, Liederlichkeit und Schamlosigkeit […]. Der Lehrer fürchtet und hätschelt seine Schüler, die Schüler fahren den Lehrern über die Nase und so auch ihren Erziehern. Und überhaupt spielen die jungen Leute die Rolle der alten und wetteifern mit ihnen in Wort und Tat, während Männer mit grauen Köpfen sich in die Gesellschaft der jungen Burschen herbeilassen, darin von Possen und Späßen überfließen, ähnlich den Jungen, damit sie nur ja nicht als ernste Murrköpfe, nicht als strenge Gebieter erscheinen. […] Teilen wir in Gedanken die Bürgerschaft einer Demokratie in drei Klassen, in die sie bekanntlich auch in der Wirklichkeit zerfällt: die erste, die eben erwähnte Drohnenklasse, wächst in der Demokratie infolge der übermäßigen Freiheit in nicht geringerer Zahl empor als in dem von einer Oligarchie regierten Staate. […] Weil sie in der Oligarchie nicht im Besitze der Bürgergeltung ist und von der Staatsregierung ausgeschlossen wird, kann sie dort ihre Geisteskraft nicht entwickeln und kommt zu keiner durchdringenden Kraft: in der Demokratie dagegen ist diese Klasse diejenige, die die ganze Bürgerschaft derselben, mit Ausnahme weniger, bevormundet: der leidenschaftlichste Teil davon spielt die tätige Rolle der Politik in Wort und Tat, der übrige Schwarm umlagert passiv mit Gesumse die Rednerbühne und läßt niemanden eine andere Meinung vortragen, so daß bei einer solchen Verfassung alle Geschäfte des Staates, mit Ausnahme weniger, von der genannten Klasse abgemacht werden. […] Die zweite Klasse ist nun die, welche sich immer vom Volke vornehm absondert.
Diese zweite Klasse, die Reichen, führen bekanntlich den Namen »Drohnenfutter«. […]
Die dritte Klasse der Demokratie aber wäre das niedere Volk, worunter alle gehören, die von eigner Handarbeit leben, die keine Freunde von Staatsgeschäften sind, die keinen großen Landbesitz haben, und dieser Teil ist der zahlreichste und zugleich der entscheidendste, wenn er ganz versammelt ist. (πολιτεία, 8. Buch)
Die rädelsführenden Volksführer würden nun darum wetteifern, die besitzende Klasse zu berauben und den Raub so unter das Volk zu verteilen, daß sie selbst den größten Teil davon behalten.
Es ist schön beobachtbar, wie bei den alten Griechen langsam die Begehrlichkeiten zur Umverteilung wuchsen und so nach und nach das nomos Schaden nahm. Zunächst bot sich die offene Struktur der Rechtssprechung als Einladung zur Ausnutzung durch weniger gemeinwohlorientierte Bürger an. Wie oben beschrieben wurde, konnte in öffentlichen Angelegenheiten jeder Anklage erheben. Dies stellte natürlich auch ein geeignetes Mittel dar, um auf ungeliebte Mitbürger Druck auszuüben oder diese gar zu erpressen. Das berühmteste Opfer dieses Mechanismus der antiken Demokratie war Sokrates. Bürger, die sich dazu überreden ließen, gegen andere im Dienste derer Konkurrenten oder Feinde Anklage zu erheben, um sie unschädlich zu machen, nannte man Sykophanten. Auf Englisch ist der Begriff erhalten und bezeichnet heute Speichellecker. Die Römer kannten dasselbe Problem und sprachen von delatores.
Diese Möglichkeit der gegenseitigen Erpressung begünstigte auch das Aufkommen einer frühen Form der Umverteilung, die ja schon Platon als fast unvermeidliches Charakteristikum einer Demokratie erkannte. Von vermögenderen Bürgern wurde erwartet, daß sie als Mäzene kulturelle und vor allem kultische Werke ermöglichten. Diese zunächst freiwilligen, für spezifische Zwecke vorgesehenen Mittel nannte man Liturgien (von griechisch λειτουργία – öffentlicher Dienst). Mit der Zeit nahm jedoch der Druck auf die Vermögenden zu, die Liturgien erhielten immer mehr einen Zwangscharakter aufgrund des öffentlichen Drucks.
In seinem Gastmahl schildert Xenophon das Schicksal eines Grundbesitzers, der aufgrund dieses Drucks verarmte: Denn solange ich reich war, schmeichelte ich den Sykophanten, weil ich wußte, daß ich in meiner Lage mehr Schaden von ihnen zu befürchten hatte, als umgekehrt sie von mir; und dann legte mir die Gemeinschaft immer neue Abgaben auf; und verreisen durfte ich überhaupt nicht. Jetzt dagegen, wo mir meine Güter nichts eintragen, kann ich ungestört und ruhig schlafen; ich besitze das Vertrauen der Gemeinde, niemand bedroht mich mehr, vielmehr kann ich jetzt andere bedrohen, und so bin ich jetzt wirklich ein freier Mann, und kann wegreisen oder dableiben, ganz wie es mir paßt. Ja, die Reichen stehen jetzt vor mir von ihren Sitzen auf und machen mir auf der Straße Platz. Fürwahr, nun bin ich Herr, früher glich ich einem Sklaven. Damals war ich dem Volke tributär, und heute ist das Volk mir abgabenpflichtig und ernährt mich! (Συμπόσιον φιλοσόφων, IV, 31ff) Der Dichter Euripides beschrieb die Situation so: Die Armen, die des Lebensunterhalts ermangeln/Sind ungestüm und richten schnöderem Neide zugewandt/Auf die Begüterten der Mißgunst Pfeile/Getaucht ins Zungengift verlockender Verführer. (Ικέτιδες, 238ff)
Im antiken Rom schließlich wurde diese zunächst demokratische Umverteilung im Imperium institutionalisiert. Der Untergang der römischen Zivilisation ist eng mit der Ressourcenaufzehrung durch den Staat verbunden. Der berühmteste Historiker des römischen Niedergangs, Edward Gibbon, beschreibt sehr eindrücklich, wie sich das System seit Diokletian ad absurdum führte: Die Zahl der Minister, Beamten, Offiziere und Diener, welche die verschiedenen Ämter der Staatsverwaltung füllten, überstieg alles bisher Dagewesene. (The History of the Decline and Fall of the Roman Empire). Einmütig und einstimmig hätten die römischen Geschichtsschreiber die Last der öffentlichen Abgaben und besonders die Land- und Kopfsteuer als das unerträgliche und ständig wachsende Übel ihrer Zeit gebrandmarkt. Lactantius etwa kam zum Schluß: als die Zahl der Empfänger die Zahl der Beiträger überstieg, da erlagen die Provinzen der Last der Tributzahlungen. (De mortibus, 7)
Wie schon die Griechen unter Mißfallen beobachteten, kommt in der Demokratie bald eine Klasse von Menschen auf, die sich besonders gut darauf verstehen, die Masse zu beeinflussen und ihre Launen auszunützen. Es entstehen Parteien – dieser Begriff kommt vom pars populi, einem Teil der Bevölkerung, der auf Kosten der anderen Vorteile sucht und nicht mehr das Gemeinwohl, das per Definition unparteiisch ist, im Sinne hat. Die „Partei“ ist stets ein negativer Begriff. Noch die US-Gründerväter zerbrachen sich lange den Kopf, wie das Aufkommen solcher factions zu vermeiden wäre.
Jene, die diese parteilichen Interessensgegensätze fördern und nützen, nennt man in der Neuzeit Politiker. Damit wird der positive Begriff der Polis, die das Gemeinwohl bezeichnet, in sein Gegenteil verkehrt. Der moderne Sprachgebrauch entstammt dem Französischen, wo man bald abschätzig von der „politique“ sprach. Dabei wurden zwei Möglichkeiten, sich im Leben zu verdingen, gegenübergestellt: Entweder man gehe einer anständigen Arbeit nach oder man sei gerissen genug, „politique“ zu betreiben.
In der Antike gab des den Begriff so noch nicht, er stellte wohl noch kein so professionelles und institutionalisiertes Gewerbe dar wie heute. Die Griechen legten aber den Grundstein dafür, indem sie, wie bereits erwähnt, die herkömmliche berufliche Tätigkeit den Banausen und Idioten zuschrieben. Womöglich lagen sie mit der Einschätzung nicht so falsch, daß man in einer Massendemokratie bald nur noch ein nützlicher Idiot sei, wer sein Geld mit anständiger Arbeit verdiene, wo es doch einfachere Wege gibt. Zum Idioten fehlt aber ein Gegenbegriff – man könnte etwa vom „Demoten“ sprechen. Während sich der „Idiot“ ausbeuten läßt, ist der „Demot“ Ausbeuter. Die Durchsetzung der „Demoten“ über die „Idioten“ in der Demokratie wird in der Antike sehr klar beobachtet. Betrand de Jouvenel etwa kontrastiert den alten politischen Typus eines Cato mit dem neuen Typus eines Caesar, der schließlich, der Demokratie entsprungen, diese zu ihrem Ende bringt und die Prophezeiung der Philosophen erfüllt. Diese Wende vollzog sich an jenem Punkt, als Cato vom wütenden Pöbel von der Tribüne gezerrt wurde und die warnenden Worte sprach: Ihr bringt jene zum Verstummen, die euch überlegen sind, nur um euch selbst der Herrschaft eines einzelnen auszuliefern!
Es kommt zu einer zunehmenden Entpersönlichung der Macht. Die Menschen fangen plötzlich an, vom Gemeinwesen in unpersönlichen Fürwörtern zu sprechen: „sie regieren uns“, „sie haben die Steuern erhöht“ usw. José Ortega y Gasset beschreibt sehr schön diese Präferenz der Masse für anonyme, gleichartige Herrschaft gegenüber persönlichen Hierarchien: Der Massenmensch sieht im Staat eine anonyme Macht und, da er sich selbst genauso anonym fühlt, glaubt er, daß der Staat zu ihm gehört. Wenn sich im öffentlichen Leben eines Landes eine Schwierigkeit, ein Konflikt oder ein Problem auftut, neigt der Massenmensch dazu, eine sofortige Intervention und direkte Lösung seitens des Staates mit seinen immensen und unangreifbaren Ressourcen einzufordern. […] Wenn die Masse irgendein Unglück erfährt oder einfach einen starken Appetit verspürt, liegt ihre große Versuchung in jener stets gewissen Möglichkeit alles ohne Mühe, Streit, Zweifel oder Risiko zu bekommen, indem sie bloß einen Knopf drückt und die mächtige Maschinerie in Bewegung setzt. (La rebelión de las masas). Diese anonyme Macht stößt wohl auch deshalb auf soviel Gegenliebe der Masse, weil sie einer großen Lotterie ähnelt, in der jeder das gleiche Los zu halten glaubt, einmal in der zähen Masse obenauf zu schwimmen.
Erik Ritter von Kühnelt-Leddihn bringt jene verhängnisvolle Neigung sehr gut auf den Punkt, wenn er schreibt:
Hin- und hergerissen zwischen dem teilweise noch überlebenden menschlichen Drang nach Freiheit und dem Wunsch, geführt zu werden, wählen die Massen gerne einen Kompromiß in Form eines Herrn, der ihnen die Illusion gibt, daß sie sich immer noch „selbst“ regieren. (Freiheit oder Gleichheit?, S. 53)
Interessant ist, daß im parteipolitischen Prozeß nicht, wie sonst in einem Gemeinwesen zu erwarten, die Besten an die Spitze gelangen, sondern – moralisch betrachtet – die Schlechtesten. Friedrich A. von Hayek brachte dies auf die Formel: The worst get on top. Die Verführer setzen sich gegen die Führer durch. Alexis de Tocqueville berichtete von seiner Reise in die moderne Demokratie der USA jene typische Beobachtung: Er habe sich gewundert, wie weit Anstand und Verdienste unter den Regierten verbreitet waren und wie gering unter den Regierenden.
Die klassische Erklärung dafür geht allerdings nicht von einer Verschwörung der Fähigeren aus, die sich das dumme Volk Untertan machen. Die Masse habe die Politiker, die sie verdiene, denn sie würde gar keine Besseren erdulden. Für Aristoteles etwa hätte es zur Definition von Demokratie gehört, daß ein Mensch, der sich durch besondere Verdienste so hervortäte, daß er die anderen weit überragte, vertrieben oder umgebracht würde – denn sonst wäre es keine Demokratie mehr, sondern der Beginn eines Königtums.
Die moderne Demokratie
Was wir heute als selbstverständlich betrachten, ist oft jüngeren Datums als wir denken. Die Begriffe mögen uralt sein, in der Regel haben sie mit früheren Inhalten wenig bis nichts gemeint. Die gesamte Betrachtung der Demokratie hängt an einem weiteren Begriff, der für uns heute der eigentliche Ausgangs- und Endpunkt der Überlegungen um die Regierungsform ist: der Staat.
In der Antike gibt es überhaupt keine Entsprechung für diesen Begriff. Es ist bloß von der Stadt die Rede, aber auch dies weniger im abstrakten Sinne, sondern als Sammelbegriff für deren Bewohner, die Bürgerschaft. „Staat“ kommt zwar vom lateinischen status, doch das bezeichnet bloß den Zustand einer Sache. Erst über das Französische gewinnt der Begriff politische Bedeutung und bezeichnet als états zunächst verschiedene Bevölkerungsschichten, die sich im Gemeinwesen herausbilden. Auf Deutsch würde man von Ständen sprechen. Schließlich bezog sich das Wort état dann auch auf die Ressourcen der jeweiligen Schichten, die zunehmend als Parteien in Konfliktstellung zueinander gerieten. Doch auch diese Bedeutung stand für keine abstrakte, neue Körperschaft.
Eine abstrakte Theorie der obrigkeitlichen Macht, die losgelöst von der konkreten Herrschaft betrachtet wurde, bildete sich im Mittelalter heraus. Dazu wurde die Theorie der zwei Körper des Königs entwickelt. Was passierte mit der Königsmacht, wenn der König starb? Dessen Hofintellektuelle erfanden einen corpus mysticum: Nur der materielle Körper des Königs sei sterblich, dessen mystischer Körper jedoch lebe fort. Dies ist der Hintergrund der berühmten Formel le roi est mort, vive le roi (Der König ist tot, es lebe der König!).
Darauf aufbauend begründete Thomas Hobbes den Ansatz, den Staat als „künstlichen Menschen“ einzuführen, also als abstrakte Körperschaft, die beliebig ausgefüllt werden konnte. Er selbst verwendete jedoch das Wort noch nicht, sonder sprach nach wie vor vom Gemeinwesen, bzw. eigentlich Gemeinwohl (Common Wealth).
Dieses abstrakte Gemeinwesen, von jeder konkreten Bürgschaft entbunden, mit dem Begriff „Staat“ zu bezeichnen, ging erst in den allgemeinen Sprachgebrauch, nachdem die traditionelle Schichtung der Gesellschaft aufgehoben war und nur ein einziger gleichförmiger état widerstreitender Parteigänger übriggeblieben war.
Dabei wurde auch der historische Bezug zum Recht gelöst, das in der Antike und im Mittelalter stets als vor und außerhalb der Herrschaft stehend galt. Das Recht legitimierte eine Ordnung, nicht die Ordnung das Recht. Nach der Emanzipation des Staates vom Recht, die der liberale Baron Montesquieu vollendete, wurde die abstrakte Organisation selbst zum Rechtssetzer. Die Folge ist eine seitdem rasante Zunahme der Macht dieser unpersönlichen Herrschaftsorganisation, die heute über Ressourcen verfügt, die alle historischen Vorbilder in den Schatten stellen.
Bertrand de Jouvenel beschreibt diesen Prozeß als Usurpation, die im Namen der Befreiung eine weit umfassendere Herrschaft begründete: Der Thron wurde nicht umgestoßen, er wurde von der Nation-Person bestiegen. Diese künstliche Person entsprach einem weiteren abstrakten Kunstbegriff: der Nation. Sie trat zunehmend an die Stelle des lokalen Bezuges. Der große Vorteil der Nation-Person läge darin, daß die Untertanen gegenüber einem König, der als eine von ihnen unterschiedliche Person angesehen wird, von natürlicher Sorge erfüllt sind, ihre Rechte zu sichern. Die Nation hingegen ist nicht eine unterschiedliche Person: sie ist der Untertan selbst und zugleich viel mehr als er – sie ist ein vergegenständlichtes Wir. (On Power, S. 53)
Die solcherart beschädigten Schranken der Macht fallen gänzlich, sobald die Nation-Person mit einer Ideologie ausgestattet werden kann, die jenem künstlich geschaffenen Wir freie Bahn schafft. Ideal erwies sich dafür das schöne, alte Wort von der Demokratie. Was einst die freie Beteiligung einer konkreten, lokal verankerten Bürgerschaft an ihrem Gemeinwesen bezeichnete, war hervorragend geeignet, um die Herrschaft eines abstrakten Wir von jeglicher Konkurrenz um die Macht zu befreien. Wo dies enden würde, beschreibt de Jouvenel mit sehr klaren und scharfen Worten: In der Zerstörung jeder Autorität zugunsten einer alleinig verbleibenden – jener des Staates. In jedes Menschen absoluter Freiheit von jeder familiären oder sozialen Autorität, eine Freiheit, deren Preis die komplette Unterwerfung unter den Staat ist. In der vollkommenen Gleichheit zwischen allen Bürgern zum Preis ihrer gleichen Erniedrigung vor der Macht ihres absoluten Herrn – des Staates. In dem Verschwinden jeder Beschränkung, die nicht vom Staat ausgeht, und in der Verweigerung jeden Vorrangs, der nicht durch den Staat erteilt wird. Mit einem Wort endet es in der Atomisierung der Gesellschaft und im Bruch jeden privaten Bandes, das Menschen verbindet, deren einziges Band nun ihre gemeinsame Bindung an den Staat ist. (On Power, S. 187)
Wer es bis hierher geschafft hat, diese Analyse zu lesen, kommt um den Rest nicht herum. Ich muss den Leser daher noch etwas mehr fordern.
Die amerikanische Demokratie
Als Vorzeigemodell der modernen Demokratie gelten die Vereinigten Staaten von Amerika. In jenem jungen Staat muß man nicht so weit in die Vergangenheit blicken wie in Europa, um die Dinge von ihren Ursprüngen an zu überblicken, und doch ist die Geschichte der amerikanischen „Demokratie“ in Vergessenheit geraten – oder wird vielmehr verdrängt. Denn wer bei den bis heute gefeierten Gründervätern nachliest, wird nicht weniger überrascht sein als der ernsthafte Student der antiken Demokratie. Wenn wir heutigen amerikanischen Stimmen lauschen, müssen wir zum Schluß kommen, es hier geradezu mit einer Gründungslüge gigantischen Ausmaßes zu tun zu haben.
Die US-Gründerväter waren allesamt dezidierte Antidemokraten. Nicht weil sie durchwegs von bösartigen Intentionen getrieben waren, ganz im Gegenteil. Ihr Studium der Geschichte ließ sie bei dem historisch einmaligen Vorgang einer Neubegründung eines Staatswesens auf der tabula rasa eines riesigen Kontinents mit noch vielen leeren Flecken größte Vorsicht an den Tag legen.
In Übereinstimmung mit fast allen historischen Denkern von Rang schlossen die Gründerväter, daß eine Demokratie allenfalls in kleinen, lokalen Gemeinwesen funktionieren kann und selbst dort stets in größter Gefahr steht, ins Unrecht zu kippen. Es war kein historisches Beispiel einer funktionierenden Demokratie bekannt, die der Größe der USA auch nur nahe kam.
Entsprechend einhellig war die Ansicht, daß man es unbedingt vermeiden mußte, die Vereinigten Staaten zu einer Demokratie verfallen zu lassen. Stattdessen wollten die aristokratisch eingestellten Gründerväter eine Republik errichten. Darunter verstanden sie ein Gemeinwesen, in dem nicht die Mehrheit regiert, sondern wenige Männer von besonderem Verdienst, deren Aufgabe es wäre, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln. Entsprechend wurden die Verfassung und die jungen Institutionen gezielt darauf ausgerichtet, eine Demokratie zu verhindern. Daß eines Tages die bloße Mehrzahl durch zufällige Mehrheiten auf kontinentaler Ebene als gleichförmiger Moloch die Geschicke des Landes regieren würde, galt als Schreckgespenst. Vieles erinnert heute noch an diese Konstruktion einer Republik, wird heute aber nicht mehr verstanden und als seltsames Fossil belächelt – etwa die komplizierte Struktur der Wahlmänner.
Doch schon bei der Gründung waren die kritischen Stimmen laut. Manche erwiesen sich als besonders vorausschauend darin, vorherzusagen, daß die Struktur einer solchen föderalen Verbandsrepublik nicht lange halten würde. Denn die Zentralisierungstendenzen würden unweigerlich zu einem Verfall der Republik zu einer Demokratie führen.
Besonders kritisch waren die heute kaum noch beachteten Gegner des staatlichen Einigungsprozesses, die als Antifederalists bekannt sind. Ihre Prognosen hatten seherische Qualität. Sie inspirierten die erste Parteigründung in den USA als Widerstandsbewegung gegen die Zentralisten, deren Wortführer Alexander Hamilton war. Dessen Zentralismus war freilich auch noch alles andere als demokratisch motiviert, eigentlich wollte er eine Monarchie errichten.
Zunächst sammeln sich dessen Gegner in der „Republican Party“, um eben Partei für das ursprüngliche Vorhaben einer Republik zu ergreifen. Dieses schien durch die grandiosen Vorstellungen der Zentralisten gefährdet zu werden. Thomas Jefferson ist der führende Kopf dieser Partei, seine Vision für Amerika ist eine lose Konföderation kleiner Handwerker und Bauern, die in ihren Gemeinden leben und wirken.
Die Hamiltonians werden diese „Partei des kleinen Mannes“ als „demokratisch“ verspotten. Damals war dies ein Schimpfwort, Demokratie stand für die Herrschaft des rückschrittlichen Pöbels, der von der Welt und der großen Politik keine Ahnung hat. Nach und nach, wie so oft in der Politik, bleibt die Schmähung hängen und man beginnt, sich positiv damit zu identifizieren, um sich von den Zentralisten abzuheben, die als „aristokratisch“ beschimpft werden. Das Projekt der Federalists, die sich schließlich als Federalist Party organisieren, sei ein elitäres, „undemokratisches“ Vorhaben. So ändert sich der Name von Jeffersons Partei in „Democratic-Republican Party“. Bald wird das „Republican“ ganz verschwinden und eine Wende im Namen mit sich bringen, die nach einer paradoxen 180°-Richtungsänderung aussieht. In der Tat ist dies eine seltsame Ironie der Geschichte, doch nicht die letzte in der jungen Republik.
Erst im 19. Jahrhundert wandelt die USA endgültig ihr Gesicht von einer Eliten-Republik zu einer Massendemokratie. Der erste Politiker im modernen Sinne sollte die USA tiefgreifend verändern: Andrew Jackson. Unterstützt von der wachsenden Zahl von„Pionieren“, Zuwanderern und Umherwanderern, die losgelöst von den uramerikanischen Siedlungen waren und einen neuen Geist vertraten, kam er als siebenter Präsident des noch jungen Staatenbundes an die Macht. Erst er führte das Wahlrecht für alle Männer ein, davor bestimmten nur Grundbesitzer Repräsentanten. Außerdem begründete er das, was in den USA als spoils system bekannt ist: die Vergabe von staatlichen Jobs an Unterstützer. Eine politische Maschinerie war damit erwacht, die sich nunmehr selbst am Leben halten konnte. Max Weber bezeichnete dieses moderne System boshaft, aber in aller Ernsthaftigkeit, als „Dilettantenverwaltung durch Beutepolitiker“ (Politik als Beruf).
Der französische Aristokrat Alexis de Tocqueville besuchte in dieser Zeit die USA und erstatte in Europa Bericht über dieses skeptisch beäugte Experiment einer Massendemokratie. Mit den antiken Vorbildern hatte diese freilich schon damals nur noch wenig gemein. Tocqueville schüttelt den Kopf über den Gedanken, einen ganzen Staat nach dem Abzählen von Wahlzetteln zu führen. Seine Beobachtungen (alle folgenden Zitate aus De la Démocratie en Amérique) sind haarscharf: Der Präsident regiert nicht mehr im Interesse des Staates, sondern in jenem seiner Wiederwahl; er prostituiert sich vor der Mehrheit, und anstatt ihren Gelüsten zu widerstehen wie es seine Pflicht wäre, läßt er sich oft von ihren Launen antreiben. Intrige und Korruption seien die natürlichen Laster eines Stimmzettelregimes. Doch nicht bloß die Intrigen einzelner Politiker seien das Problem, der Staatsapparat als ganzer mit seinen immensen Ressourcen intrigiert und korrumpiert. Wirklich verheerend sei das Stimmzettelregime jedoch erst, wenn die Macht der Exekutive größer wird. Die damaligen USA waren noch weit vom heutigen System entfernt, doch die Dynamiken waren unvermeidlich. So erschreckt die Aktualität von Tocquevilles Warnung, wohin dieser Typus von „Demokratie“ führen würde: Es scheint, daß, würde sich der Despotismus in den demokratischen Nationen unserer Tage breit machen, dieser anders geartet wäre […]. Er würde der väterlichen Macht ähneln, wenn er wie diese zum Ziel hätte, die Menschen auf das Erwachsenwerden vorzubereiten; doch er versucht im Gegenteil, sie für immer in der Kindheit festzuhalten; er möchte, daß sich die Bürger vergnügen, vorausgesetzt, sie denken an nichts anderes als ans Vergnügen. Er arbeitet gerne für ihr Wohlbefinden; aber er will der einzige Grund und der einzige Maßstab dafür sein; er sorgt sich um ihre Sicherheit, überwacht und sichert ihre Bedürfnisse, erleichtert ihre Freuden, kümmert sich um ihre wichtigsten Geschäfte, leitet ihre Industrie, teilt ihre Erbschaften - am Ende nimmt er ihnen wohl auch die letzte Sorge und die letzte Not: die Sorge zu denken und die Not zu leben.
Der Status quo
Die klassische Kritik an der Demokratie bestand in der Warnung, daß die Herrschaft der Mehrheit sehr bald zur Entmündigung der Mehrheit führen würde. Es ist interessant und hinsichtlich einer Analyse der Gegenwart aufschlußreich, daß diese Kritik vor der Moderne so einhellig war und heute das genaue Gegenteil der Fall zu sein scheint: Viele Leser werden in dieser Analyse zum ersten Mal von einer so kritischen Beurteilung der Demokratie lesen. Ist die Bilanz der modernen „Demokratie“ der Massen so überzeugend, daß Kritik nur noch von historischem Interesse ist? Oder könnte es sein, daß diese „Demokratie“ selbst das Denken so deutlich beeinflußt?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst herausfinden, am welchem Punkt wir uns überhaupt befinden. Herrscht überhaupt die Masse? Gibt überhaupt die Mehrheit den Ton an? Soll die Darlegung der historischen Demokratiekritik so verstanden werden, daß die heutigen Eliten den heutigen Massen vorzuziehen wären?
Auf den ersten Blick scheinen fast alle heutigen „Staatsbürger“ überzeugt davon, als Teil wechselnder Mehrheiten über die Zusammensetzung und damit Politik ihrer Regierung zu bestimmen. Das universelle Wahlrecht erlaube wesentliche breitere Mitbestimmung als jemals zuvor. Seltsamerweise spricht das Bauchgefühl der meisten Menschen eine ganz andere Sprache. Die überwiegende Mehrheit hat wohl längst den Glauben daran verloren, etwas verändern zu können.
Wie bereits dargelegt, galten den Griechen Wahlen als undemokratisch. Kein Wunder, ist doch das anonyme Malen eines Kreuzes innerhalb einer riesigen Masse das absolute Gegenteil dessen, was man als Selbstregierung verantwortlicher Bürger verstehen würde. Die antiken Denker hätten wohl nichts als Spott übrig für unseren heutigen Pathos, mit dem wir uns für unser „Recht“ bejubeln, einen Tag lang Bürger zu sein und dann fünf Jahre lang Untertan. Unser Sprachgebrauch macht es dabei so deutlich, doch kaum jemandem fällt es auf: Wir geben unsere Stimme ab!
Die schiere Masse der Teilnehmer hat jene Folge, die man wahrscheinlichkeitstheoretisch so ausdrücken kann: Es ist wahrscheinlicher, auf dem Weg zum Wahllokal bei einem Unfall ums Leben zu kommen, als daß die eigene „Stimme“ eine Auswirkung auf das Wahlergebnis hat. Es mag absurd klingen, doch die Partizipation wäre vermutlich größer, wenn politische Entscheidungen nach dem öffentlichen Lesen in den Eingeweiden von Vögeln oder dem Konsultieren von Orakeln getroffen würden. Es ist in der Tat wahrscheinlicher, daß ein einzelner Entscheider, ob er nun per „Wille“, „Zufall“ oder „Magie“ die Wahl trifft, von einem konkreten, nahestehenden Menschen, der Teil eines gegenwärtigen, sichtbaren Publikums ist, bewußt oder unbewußt beeinflußt wird, als daß ein politischer Entscheid vom Kreuz eines unter Millionen berührt wird. Schließlich ist es auch ein Fehler anzunehmen, daß nur Wahlen eine Übereinstimmung mit den Wünschen der Mehrheit hervorbringen können. So ist ein einzelner Machthaber, bei noch so autokratischen Befugnissen, auch ohne jede Wahl viel mehr auf die Mehrheit angewiesen als eine ausgeprägte politische Kaste, die sich ständig durch Wahlen bestätigen läßt. Eines einzelnen Tyrannen kann sich eine Mehrheit sehr viel leichter entledigen als einer institutionellen Tyrannis, die womöglich noch auf Illusionen der „Mitbestimmung“ basiert.
Schon Tocqueville hatte sehr genau erkannt, daß es sich bei Wahlen um ein politisches Placebo handeln kann: Vergeblich betraut ihr dieselben Bürger, die ihr so abhängig von der Zentralmacht gemacht habt, damit, von Zeit zu Zeit die Repräsentanten dieser Macht zu wählen; dieser so wichtige, aber so kurze und so seltene Gebrauch ihres freien Urteils wird nicht verhindern, daß sie nach und nach die Fähigkeit verlieren, selbst zu denken, zu fühlen und zu handeln und so schrittweise unter das Niveau der Menschlichkeit fallen. […] Es ist in der Tat schwierig, sich vorzustellen, wie Menschen, die vollkommen auf die Gewohnheit verzichtet haben, sich selbst zu leiten, es schaffen sollten, jene gut auszuwählen, die sie anleiten sollen; und es ist unglaubwürdig, daß eine liberale, entschlossene und weise Regierung jemals aus der Wahl eines Volkes von Knechten hervorgehen könnte.
Doch wer regiert und wer bestimmt heute eigentlich? Bertolt Brecht schlug 1953 etwas boshaft „Die Lösung“ vor, um Machtverhältnisse umzukehren: Wäre es da/ Nicht doch einfacher, die Regierung/ Löste das Volk auf und/ Wählte ein anderes?
Könnte das schon geschehen sein? Zunächst fallen bestimmte Dynamiken ins Auge, die zumindest einer Umstrukturierung des Volkes, also der Menschen unter einer Regierung, entsprechen. Die Moderne war eine Phase zu-nehmender Lohnabhängigkeit und Vermassung: Sich immer mehr ähnelnde Massenmenschen, die Massenprodukte konsumieren, von Massenmedien unterhalten und informiert werden, in Massenbetrieben arbeiten und in einer Masse von Wählern als unpersönliche Elemente aufgehen. Nicht nur nahm die Zahl der Selbständigen ab, sondern damit auch eine ganz bestimmte Abhängigkeit zu: Die Abhängigkeit vom Staat. Ein großer Teil der Lohnbezieher sind Staatsangestellte oder in Betrieben tätig, die ihr Einkommen im Wesentlichen aus Staatsmitteln bestreiten. Wer noch keinen Lohn oder keinen Lohn mehr bezieht, befindet sich im staatlich konzentrierten Bildungssystem, oft mit staatlicher Bezuschussung der Lebenshaltung, oder bezieht eine staatliche Rente. In den meisten Massendemokratien unserer Tage hat die Zahl dieser Staatsabhängigen 50% der Wahlberechtigten überschritten. Das bedeutet: Die Regierung wird de facto durch ihre Beschäftigten kontrolliert.
Schon dies ist ein historisch bemerkenswerter Umstand, denn hier offenbart sich eine Umkehrung des klassischen Zugangs sowohl zur Demokratie als auch zum Staatsdienst. Das „Amt“ ist ursprünglich eine heilige Funktion, die einen Dienst am Gemeinwesen bezeichnet. In einer Demokratie sollte dieser Dienst ein Dienst am Volke sein, d.h. der Amtsträger ist dafür da, jedem Bürger zu dienen – als ein vom Bürger kontrolliertes Hilfsorgan. Diese heilige, aufopferungsvolle Aufgabe ist eine Ehre – daher noch die bis heute spürbaren Überreste eines einst sehr hohen Ansehens für den „Staatsdiener“. Dieses Ansehen ist freilich fast vollends aufgezehrt, denn heute hat man eher den Eindruck, daß der Bürger dem Beamten zu dienen hätte.
Auch in anderer Hinsicht scheint allerdings eine Wandlung des Volkes eingesetzt zu haben. Die materielle Wandlung ist nicht denkbar ohne eine tiefer liegende geistige Wandlung. Wenn wir uns die Frage danach stellen, wer heute Herrschaft ausübt, also den Gang der Staaten und derer Regierungen bestimmt, so sollten wir uns nicht von Äußerlichkeiten blenden lassen. Die Frage läßt sich nämlich in einer Weise formulieren, die einen klareren Blick erlaubt: Wer hat gestern die Linie erdacht, die heute verfolgt wird? Wer hat gestern die Politiken formuliert, die heute umgesetzt werden? Wer hat gestern die Meinungen vertreten, die heute dominant sind? Wenn die Wähler gestern für eine Forderung „noch nicht bereit“ waren, was oder wer hat sie bis heute umgestimmt?
Wenn man mit diesen Fragen im Hinterkopf die politische Entwicklung betrachtet, dann fällt auf, daß Forderungen und Maßnahmen, die vor einiger Zeit noch von der Mehrheit verlacht worden wären, heute „eine Mehrheit finden“. Wer hat diese Forderungen vertreten, als die Mehrheit „noch nicht so weit war“? Wir finden jene Vorreiter der politischen Entwicklung wenig überraschend dort, wo Ideen entstehen und in Umlauf gebracht werden: An den Universitäten, an den Schulen, in den Massenmedien. Rezepte, Ideologien, Interpretationen, Sprüche, die heute Gemeingut der Politiker sind, waren vor Jahren in den Medien zu finden und vor Jahrzehnten an den Universitäten in Mode. Daß wir es zumindest im Bildungssystem vorwiegend mit Staatsangestellten zu tun haben, verweist hier schon auf einen bedenklichen Zirkel der Machtlegitimierung.
Dabei fällt eine weitere interessante Verschiebung der Betonungen ins Auge. Auf der einen Seite nimmt bei den Regierenden und den Ideengebern die Sorge um die Geistesinhalte der Regierten zu. Auf der anderen Seite fordern politische Herausforderer der Regierenden zunehmend „mehr Demokratie“ ein. Sehen wir uns diese zwei Punkte näher an:
Paradoxerweise sind es oft jene, die sich am lautesten zur Demokratie bekennen, die es zugleich als wesentliche „politische“ Aufgabe ansehen, die „Vorurteile“ des Wählers zu verringern. Wenn eine Mehrheitsentscheidung im Sinne dieser „Demokraten“ erfolgt, so ist sie sakrosankt, doch wenn die Mehrheit anders entscheidet, werden Rufe nach „Aufklärung“ laut. Insbesondere, wenn es um die Europäische Union geht, tritt hier ein eigenartiger Umgang mit dem Wähler zutage. Ungeheure Mittel werden in „Kommunikation“ investiert. Diese glatte Umkehrung des demokratischen Prinzips hat mittlerweile alle „Demokratien“ erfaßt, sogar die Schweiz. Dort läßt die Regierung heute vor jeder Abstimmung bis zu 680 Kommunikations- und PR-Spezialisten auf das Stimmvolk los (Eduard Stäuble: Die Schweiz in der Sackgasse oder Die Zukunft der Volksrechte, St. Gallen, 2008, S. 11). Das Beispiel wurde gewählt, da wir es – relativ betrachtet – noch mit einem Musterland der Demokratie zu tun haben. So vermag man die Zustände anderswo zu ermessen, von denen wir lieber schweigen wollen.
Der Psychologe Thomas Szasz liegt daher vielleicht nicht ganz falsch, wenn er den modernen Staat als „therapeutischen Staat“ bezeichnet. Umerziehung ist eine Möglichkeit, ein anderes Volk zu „wählen“, wenn einem das gegenwärtige nicht behagt.
Daher wundert es nicht, daß wir einen Wandel der Opposition beobachten können. Sonst würde man erwarten, daß die Gegnerschaft zu einem bestimmten Status quo eher dessen Regierungsprinzip negieren würde als mehr davon zu fordern. Wenn die derzeitigen Verhältnisse demokratisch wären oder auch nur demokratisch zustande gekommen wären, wie sollte dann mehr Demokratie eine taugliche Abhilfe sein? Trotzdem lassen sich vermehrt demokratische Motive auch bei denjenigen vernehmen, die dem Status quo sehr negativ gegenüber stehen. Die zugrundeliegende These ist folgende: Die derzeitige „Demokratie“ sei eigentlich die getarnte Herrschaft einer korrupten Minderheit. Eine tatsächliche Regierung durch die Mehrheit würde den „anständigen Menschen“ wieder nach oben bringen und die Mängel der Gegenwart aufheben.
Nun deutet zwar vieles darauf hin, daß die herrschenden Eliten falsche Eliten sind, da in Massenorganisationen oft eben die Schlechtesten, nicht die Besten an die Spitze gelangen. Doch der demokratische Glaube an die Weisheit der Vielen ist naiv. Die Mehrheit hat die Stärke auf ihrer Seite, ist sie doch per Definition zahlenmäßig überlegen. Wenn sie auch die Weisheit auf ihrer Seite hätte, wie könnten wir dann deren Beherrschung durch Minderheiten erklären?
Demokratie als Ersatzreligion, doch um das zu erläutern müsste ich nochmals mindesten 20 Seiten schreiben. Schon diese Analyse haben die meisten nicht zu Ende gelesen und diejenigen die es bis hier hin Geschäft haben, würden die nächsten 20 Seiten überfordern, wie sie auch mich gerade zeitlich überfordern.
Demokratie als Ersatzreligion
Die heutigen Probleme, offen über die Demokratie zu diskutieren oder sie auch nur tiefgründig zu analysieren, sind nur auf theologischem Wege verständlich. Nach dem Schwinden der Überzeugungskraft der großen Religionen klafft eine spirituelle Lücke. Nach dem Wahnsinn des letzten Jahrhunderts klafft eine Lücke jener Zuversicht in das Gute, jener Hoffnung, die wir zum Leben brauchen. Das Versprechen der Demokratie füllte diese Lücke und an dieses, letzte große Versprechen klammern wir uns verängstigt. Jeder Zweifel könnte das hastig überdeckte existentielle Vakuum wieder sichtbar machen und die verdrängten Gespenster der Vergangenheit wieder zum Leben erwecken. Demokratie brächte Frieden, Freiheit, Wohlstand – kurz: irdisches Heil. Hier wird deutlich, daß die Hoffnung auf die Erlösung des Menschen durch den Menschen einen religiösen Charakter hat.
Diese ängstliche, tiefreligiöse Umklammerung durch den modernen Menschen mit seiner verletzten Seele erdrückt jedoch das Konzept der Demokratie. Im besten Falle und im besten Sinne nannte man so allenfalls das Ergebnis einer freien und friedlichen Gesellschaftsordnung, niemals jedoch deren Grundlage. Wo eine große Zahl der Menschen in einem Gemeinwesen tugendhaft, gemeinwohlorientiert, eigenverantwortlich und frei waren, dort sah man sie als Ergebnis solch rarer Voraussetzung zur lokalen Selbstverwaltung fähig. Schon die Betonung dieser Selbstverwaltung mißfiel den großen Denkern, sie fürchteten zu Recht die Hybris der Masse. Nur einem Narren wäre es jedoch in den Sinn gekommen, das Konzept gänzlich auf den Kopf zu stellen und die Entscheidung durch die Mehrzahl, die bloße Vielheit selbst, zur Voraussetzung zu erklären, die aus Menschen automatisch Bürger machen würde und aus Sklaven automatisch Freie. Gerade in unserer Zeit der Vermassung werden aus Untertanen nicht Bürger, bloß indem man ihnen Illusionen der „Mitbestimmung“ gibt.
Die moderne Religion der Demokratie läuft so Gefahr, das wahre Opium der Masse zu sein. Wer sich ohne jede Voraussetzung als Bürger wähnen darf, wessen Dummheit man Meinungspluralität und wessen Feigheit man Wahlgeheimnis nennt, wessen Neid man Anspruch tauft und wessen Laster gutes Recht, den kann man in jede Sklaverei einlullen, solange man ihm seine Bequemlichkeit läßt.
Aufgrund der religiösen Tabuisierung dieses modernen Kults laufen wir Gefahr, die nächste Reaktion zu nähren, die sich dann mit solcher Heftigkeit gegen die Demokratie wenden wird, daß sie auch die guten Seiten des Konzeptes durch deren Gegenteil ersetzen wird. Je blinder der Glaube an ein Versprechen, das nicht eingehalten werden kann, desto größer dann die Wut, wenn das Vertrauen schließlich geplatzt ist.
Die guten Aspekte, die es gegen die tödliche Umarmung der heutigen „Demokraten“ zu verteidigen gilt, liegen in der Betonung der Würde des „kleinen Mannes“ trotz all seiner Fehler, im Leitbild der lokalen Selbstbestimmung trotz aller dort passierenden Irrtümer, im Ideal des freien Bürgers. In der Sprache der alten Griechen: Demokratie im besten Sinne ist, den „Idioten“ Würde und Freiraum zuzugestehen, ohne sie dabei zu idealisieren.
H.L. Mencken bemerkte einmal etwas boshaft (in Notes on Democracy, S. 211f): Wer durch und durch Demokrat ist, könne eigentlich kein Demokrat sein. Er müßte dabei zusehen, wie die Menschen ihre Freiheit stets für bequeme Illusionen aufgeben und stets diejenigen bejubeln, die ihnen Unheil bringen; würde er dies tun, weil er ihr Unheil wünscht, dann wäre er kein Demokrat, denn er würde die große Mehrheit verachten. Würde er sie aus Sympathie vor ihren Fehlern bewahren wollen, dann wäre er aber erst recht kein Demokrat.
Einen dritten Weg hat Mencken jedoch übersehen: Den Nächsten aus Nächstenliebe seine Fehler selbst machen zu lassen. Dies darf jedoch keine Entschuldigung für den Status quo sein. Denn genau dieses Prinzip kann in den politischen Massendemokratien nicht wirken. „Politik“ meint heute, in vollkommener Verkehrung der ursprünglichen Bedeutung, die Verwässerung von Verantwortung, bei der Fehler vergesellschaftet werden. Wenn freie Bürger in ihrer Gemeinde gemeinsam Mist bauen, obwohl sie einzelne, Klügere gewarnt haben, kann das heilsam sein. Wenn die Dummheit der Vielen millionenfach in große Kästen fließt und sich als Volkswille maskiert, dann wird jeder Fehler zu einer Fügung launischer Götter, die man fürchtet, von denen man aber nichts lernen kann.
Marcel de Corte versuchte, den Begriff zu differenzieren, um vor dieser Gefahr warnen zu können, ohne die Hoffnung auf die guten Aspekte aufgeben zu müssen. Er unterschied die „politische Demokratie“ von der „gesellschaftlichen“. Alle rein politischen Demokratien der Vergangenheit hätten sich zur Tyrannis entwickelt: die politische Demokratie ist der Tod des Volkes; denn sie ist nicht vom Ursprung her auf einer standfesten gesellschaftlichen Demokratie gegründet, das heißt auf den völlig entpolitisierten Gemeinschaftsformen[…], die dem Menschen zugemessen sind, wo jeder mit jedem Fühlung hat und ihn auf organische, konkrete Weise begreift, weil alle sich dem gleichen gemeinsamen Geschick unterworfen fühlen. Wenn wir also aus der Demokratie alles Krankhafte austreiben und ihr die Gesundheit wiedergeben wollen, gilt es, die unerläßliche sanatio in radice [Heilung an der Wurzel] durchzuführen und außerhalb der Politik die gesellschaftlichen Grundlagen des Regimes, das anscheinend das Regime unseres Zeitalters ist, zu errichten. Wir behaupten nicht, daß das etwas Leichtes sei, ganz im Gegenteil. Aber für jeden Menschen, den die Vorurteile einer absurden Zeit nicht verblenden, ist die Wahl zwischen einem Leben in gesellschaftlicher Ordnung und dem Untergang im Politischen schon getroffen. (Das Ende einer Kultur, S. 160f.)
Diese Begriffsunterscheidung ist sicher nicht der Weisheit letzter Schluß und vermutlich ist es angesichts des übertriebenen und furchtbar unduldsamen Aberglaubens unserer Zeit besser, den Begriff der Demokratie gänzlich zu begraben. Dieser Verzicht würde vielleicht wieder Klarheit in unseren benebelten Geist bringen, der sich dann frei von Angst vor den beschworenen Dämonen der Vergangenheit den Fragen unserer Zeit widmen könnte.
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Noch ein kleiner Hinweis zum "demokratischen" Mehrheitsprinzip:
Eine kleine Gruppe von Menschen, ich nenne sie einzeln A, B, C, wollen demokratisch sein. A besitzt etwas, was B und C nicht besitzen. In vielen Fällen ist es nun mal real, dass jemand etwas besitzt was nicht alle besitzen. B und C haben jetzt mehrere Möglichkeiten um das was A besitzt, ebenfalls zu erwerben. B und C können zusammenlegen um dieses Gut zu erwerben. Sie können zusammenarbeiten um dieses Gut herzustellen, oder sie praktizieren Demokratie. B und C beschließen nun in einer demokratischen Abstimmung, das A dieses Gut an B und C herausgeben soll. Demokratisch legitimiert hat nun A Pech gehabt. Er ist nun sein Gut los auf demokratische Weise. Das ist unsere heutige Demokratie. A wird wohl nicht an Demokratie glauben.
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https://www.scribd.com/document/43506384/Demokratie
Eine Wucht. Vielen Dank für diesen unglaublich erhellenden Artikel!
Das überrascht mich doch sehr, dass jemand so weit in einem Blog zurückgeht.
Danke dafür. Es ist aber auch sehr selten, bei einer Demokratiekritik Zustimmung zu erhalten. Meistens begegnet einem Ablehnung.
Und daher, nochmals Danke.
...die breite Ablehnung ist - so erfahre ich das jedenfalls - meist ein Zeichen dafür, dass man ziemlich ins Schwarze getroffen hat. Drum: Weiter so :)
genau so ist es. Ich streite mit dem Staat juristisch schon seit Jahren und auch dort habe ich ins schwarze getroffen, bis zum eigentlichen Schach matt.
Diese Denktradition hat sich bis heute erhalten. Leider ist diese Personengruppe zahlenmäßig gegenüber der Antike über das Mittelalter bis heut nicht gewachsen. Trotz der explosionsartig angestiegen Menschenmasse. Das bedeutet sie sind zahlenmäßig noch geringer als in der Antike
Die Masse macht es nicht. Es gibt genug Philosophen. Es gibt zu viel. Und sie bringen keine brauchbaren Ergebnisse. Sie kosten nur. Ich habe genug Diskussionen durch und habe auch gelesen. Da ist nichts brauchbares.
Wie du sagst, die meisten profitieren in und von dieser Systematik. Und diejenigen die Brauchbares liefern, sind zu unbekannt, da diese sich nie dem System angeboten haben, und sich auch nicht prostitierten. Doch sie sind vorhanden.
So ist es!
Die Leute, die nachdenken, erfolgreich nachdenken, werden nicht gesehen und gehört. Im Gegenteil, sie werden unterdrückt. Gesehen und gehört werden die lauten, die hirnlosen. Die vollständig unfähige Journaille verstärkt den Effekt und tischt den Menschen nur noch Halbidioten als Experten auf. Journalisten küren Experten. Was glaubst Du wohl, was zieht das nach sich?
Das Problem ist, daß die Leute mit Potential nicht mehr erkannt werden. Das ist bereits in allen Bereichen so. Nur noch Nachplapperer kommen nach oben. Die Parteien sterben daran. Aber auch in der Wissenschaft sieht es schlecht aus. Nur die Technik scheint noch in großen Teilen unangegriffen zu sein. Aber die Abgasskandale, die keine sind, zeigen schon, daß es da auch schon bergab geht.
Die Erkennung der Leistungsträger funktioniert nicht mehr , auf allen Gebieten. Bonzen und Plapperer werden von Journalisten zu Experten geschlagen.
Juristen, Journalisten und Leerer(sic) haben die BRD an die Wand gefahren. Da helfen nur neue Keime.
Wow - ich gestehe, ich hab einiges nur überflogen, werde das aber auf jeden Fall lesen, wenn ich genug Zeit habe.
Mach das, es hat keine Eile.
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