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#Turkey's never ending journey to the EU-Membership: A summary of a debate lasting over half a century
Der EU-Beitritt der Türkei. Ein Zwischenfazit nach 50 Jahren Beitrittsdebatte
Inhaltsverzeichnis
- EINFÜHRUNG
- DIE IRRATIONALEN GEGENARGUMENTE
2.1 Irrationale Argumente auf europäischer Seite
2.1.1 Die EU beruhe auf „christlich-jüdischen“ Traditionen
2.1.2 Die Türkei habe „die Aufklärung“ nicht durchlaufen
2.1.3 Erst müsse die Türkei die Zypernfrage lösen
2.1.4 Türken hätten kulturell bedingt eine anti-demokratische Mentalität
2.1.5 Eine „privilegierte Partnerschaft“ genüge der Türkei
2.2 Irrationale Argumente auf türkischer Seite
2.2.1 Wie in Griechenland würde die Mitgliedschaft zu Wirtschaftskrisen führen
2.2.3 Die EU wolle Istanbul zum Zentrum der Orthodoxen etablieren
2.2.3 Die Türkei habe bessere Alternativen anstelle der EU Mitgliedschaft - DIE ÜBRIGGEBLIEBENEN GEGENARGUMENTE
3.1 Angst vor drastischer türkischer Migration
3.2 Kosten durch erhöhte EU-Aufbauhilfen
3.3 Verlegung der EU-Grenzen in Krisengebiete
3.4 Die Türkei sei nicht weit genug
- ARGUMENTE FÜR DEN TÜRKEIBEITRITT
4.1 Europas Wurzeln sprechen für und nicht gegen den Türkeibeitritt
4.2 EU als Katalysator demokratischer und ökonomischer Entwicklung der Türkei
4.3 Europäische Türken und EU-Türkei als doppelte Brücke
4.4 Geostrategische Lage der Türkei ist zentral für die Energiesicherheit der EU
4.5 Nur mit der Türkei kann die EU zu einer Hard Power werden - FAZIT
LITERATURVERZEICHNIS
1. Einführung
In dieser Analyse werden gängige Argumente, die in der Debatte über den Türkeibeitritt ins Feld geführt werden, über ihre Stichhaltigkeit hin untersucht. Dabei wird gezeigt, dass viele dieser Argumente emotionsgetrieben und daher wertlos sind. Die wirklichen Beitrittskriterien zur Europäischen Union sind einzig die Kopenhagener Kriterien. Dort heißt es :
„Um EU-Mitglied werden zu können, muss ein Staat drei Bedingungen erfüllen:
- Politisches Kriterium: institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten
- Wirtschaftliches Kriterium: funktionsfähige Marktwirtschaft und Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten
- Acquis-Kriterium: Fähigkeit, die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu übernehmen und sich die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu Eigen zu machen
Damit der Europäische Rat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beschließen kann, muss das politische Kriterium erfüllt sein.“
Da die Türkei die politischen Kriterien hinreichend erfüllte, wurde ihr 1999 der Kandidatenstatus zuerkannt. Die Beitrittsverhandlungen begannen unter der amtierenden AKP -Regierung am 3. Oktober 2005. Das Ziel der Verhandlungen ist, trotz der langen Blockierungsversuche Österreichs, eindeutig. Im Vertrag steht: „Ziel der Verhandlungen ist die Mitgliedschaft.“ Der österreichische Wunsch ein alternatives Verhandlungsziel (etwa eine „privilegierte Partnerschaft“) aufzunehmen wurde letztlich einstimmig abgelehnt.
Im Vorfeld hat die Türkei 37 Artikel der türkischen Verfassung geändert. Es kam unter anderem zu folgenden Änderungen: Abschaffung der Todesstrafe, das Erlernen von Minderheitensprachen sowie deren Gebrauch (insbesondere des Kurdischen) in Presse und Rundfunk wurde erlaubt, Abschaffung der Folter, Stärkung der Meinungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, der Einfluss des Militärs in der Politik wurde zurückgedrängt, die Versammlungsfreiheit sowie die Gleichberechtigung von Frauen wurde verfassungsrechtlich garantiert.
Der türkische Weg zur EU ist älter als die EU selbst. Die Meilensteine auf dem Weg zur EU waren folgende :
• 1949 die Türkei wird Mitglied im neugegründeten Europarat
• 1963 Assoziationsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
• 1995 die Türkei wird Mitglied der europäischen Zollunion
• 1999 die Türkei wird offizieller EU-Beitrittskandidat
• 2005 Beitrittsverhandlungen werden aufgenommen
Obwohl die Türkei mittlerweile als „ewiger Beitrittskandidat“ bezeichnet wird, die Beziehungen schon mehrere Tiefpunkte überstanden haben und die Zustimmungswerte in der europäischen und türkischen Bevölkerung sinken, hat die Türkei den „Europäischen Traum“ nicht aufgegeben.
Die Türkei glaubt an die universalen Werte der Europäischen Union und will ihr deshalb beitreten. 14 der 35 Verhandlungskapitel sind geöffnet, jedoch laufen die Verhandlungen nur sehr schleppend voran.
Sowohl das Staatsoberhaupt Präsident Erdoğan, als auch die Vertreter der Regierung haben jüngst den Beitrittswillen ihres Landes noch einmal bekräftigt. Dabei gingen sie darauf ein, dass die Türkei keine Last, sondern eine Chance für die EU darstellt. Ziel dieser Arbeit ist es, den Reformwillen sowie den Verhandlungswillen auf beiden Seiten zu stärken. Dazu werden die Argumente für und wider eines Türkeibeitritts auf ihre Werthaltigkeit untersucht und anschließend gegeneinander abgewogen.
2. Die irrationalen Gegenargumente
Die Debatte über den Türkei-Beitritt zur Europäischen Union ist stark von Emotionen getrieben. Richtige Politik-¬Entscheidungen können aber nur im Lichte von rationalen Fakten getroffen werden. Emotionen, die von Populisten und Demagogen instrumentalisiert werden, dürfen keinen Platz haben in einer seriösen Debatte. Deswegen werden in diesem Kapitel die emotionsgetriebenen, irrationalen Argumente als solche entlarvt. Diese irrationalen Argumente haben keine Daseinsberechtigung in einer von zivilisierten Gesellschaften geführten rationalen Beitrittsdebatte.
2.1 Irrationale Argumente auf europäischer Seite
2.1.1 Die EU beruhe auf „christlich-jüdischen“ Traditionen
Von einer „christlich-jüdischen Tradition“ phantasieren in Europa in den letzten Jahren immer häufiger Politiker in Europa, v.a. um sich vom Islam abzugrenzen .
Dieses Argument ist so irrational, dass es skandalös ist, dass nicht nur offensichtliche Populisten, sondern auch vermeintlich seriöse Politiker es als Gegenargument zum Türkeibeitritt gebrauchen. Aufgeklärte Bürger wissen, dass die christlich-jüdische Tradition „von antisemitischen Pogromen, von Vertreibungen, von Enteignungen, von der Massenvernichtung geprägt gewesen“ ist.
Um populistischen Verblendungen entgegenzuwirken gibt es u.a. die Bundeszentrale für politische Bildung. Diese Institution klärt den Sachverhalt mit folgenden Worten auf:
Führende Politikerinnen und Politiker sprachen von "der christlich-jüdischen Tradition", die unsere kulturellen Wurzeln darstellten. Es mehrten sich die Diskussionen über eine jahrhundertealte christlich-jüdische Symbiose […]
Selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung der Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland wird rasch deutlich, dass es nie eine christlich-jüdische Symbiose gab. Eine jahrhundertelange Tradition der Verfolgung, Diskriminierung und Pogrome in Deutschland und anderen europäischen Staaten gegen Juden bestimmt vielmehr das historische Bild des christlich-jüdischen Verhältnisses.
Die „christlich-jüdisch-islamische Tradition“ in Europa war dagegen folgende: Christen unterdrücken solange Juden bis Erstere sich mal wieder dazu entschließen, die Letzteren einer Massenvernichtung bzw. Deportation zu unterziehen, daraufhin flüchten die überlebenden Juden bevorzugt in muslimische Gebiete.
Um der christlichen Unterdrückung zu entkommen sind jahrhundertelang Juden ins muslimische Andalusien im heutigen Spanien geflüchtet. Deswegen sehen Historiker das muslimische Andalusien auf der Iberischen Halbinsel als Heimatland der europäischen Juden und reden von einem „goldenen Zeitalter“ der jüdischen Kultur in Spanien. Da im muslimischen Spanien Juden, Christen und Muslime friedlich zusammenlebten und Wissenschaft und Künste gemeinsam vorantrieben.
Als 1492 Andalusien von Christen eingenommen wurde, wurden Juden und Muslime vertrieben. Viele Juden wurden vom osmanischen Reich aufgenommen, wo man sie als gute Künstler, Handwerker und Kaufleute schätzte.
Das Argument von der „christlich-jüdischen Tradition“ ist daher als irrationaler Populismus abzuweisen.
Da Konfessionszugehörigkeiten oft nicht offiziell erfasst werden, wird im Rahmen des Eurobarometers auch die Religionszugehörigkeit der EU-Bürger abgefragt.
Im Eurobarometer 2012 bekennen sich innerhalb der EU-27 :
• 0% zum Judentum
• 72% zu einer christlichen Konfession, darunter
o 48% Katholiken
o 12% Protestanten
o 8% Orthodoxe
o 4% andere christliche Konfession
• 2% zum Islam
• 26% zu keiner Konfession
Man sieht, dass „das Christentum“ ziemlich heterogen ist und längst nicht die Gesamtbevölkerung der EU abdeckt. Einzig die Katholiken bilden mit 48% eine große gesamteuropäische Gruppe. Wenn man bedenkt, dass innerchristliche Konfessionskriege historisch gesehen eher Zwietracht statt Eintracht in Europa gesät haben, und wenn man bedenkt, dass nur ein kleiner Bruchteil der Menschen mit christlicher Konfession überhaupt noch eine Kirche betreten, verliert das christliche Argument weiter an Wert.
Auch aus den gegenwärtigen demographischen Gegebenheiten lässt sich keine „christlich-jüdische“ Gemeinschaft ableiten. Das jüdisch-christliche Argument ist also für die Gegenwart genauso irrational, wie es im Bezug zur europäischen Geschichte gewesen ist.
Die Idee eines vereinten Europas ist keine christliche Idee, im Gegenteil sie setzt die Zurückdrängung des Christentums und ihre konfessionellen Konflikte voraus. Auch in der heftig geführten Debatte über den Gottesbezug in der EU-Verfassung wurde durch die Ablehnung des Religions- und Gottesbezugs noch einmal deutlich, dass die Europäische Union keine Religionsgemeinschaft, sondern eine Wertegemeinschaft ist.
Die europäischen Gesellschaften haben sich schon lange säkularisiert. Ebenso wie die Länder der EU-28 ist auch die Türkei längst ein säkularer Staat, deswegen greift das Religionsargument hier nicht.
Moderne Gesellschaften werden nicht von Religionsautoritäten, sondern von der -durch die Volkssouveränität abgeleitete- Autorität des allgemeingültigen Gesetzes geregelt. Die Rechtsstaaten Europas und das Justizsystem der Türkei gründen auf dem römischen Recht. Die heutige Türkei war, wie ein Großteil der heutigen EU, Teil des Römischen Reiches. Das hier entwickelte römische Recht taugt viel eher als Grundlage einer europäischen Wertegemeinschaft, als eine dubiose „jüdisch-christliche Tradition“. Wenn die Türkei der EU beitreten sollte, wären nunmehr 27 statt 26 Staaten mit römischem Rechtssystem auf dem europäischen Festland vereint.
2.1.2 Die Türkei habe „die Aufklärung“ nicht durchlaufen
Als nächstes irrationales Gegenargument dient den Beitrittsgegnern die Aufklärung.
Es ist widersprüchlich, wenn Beitrittsgegner gleichzeitig auf das Christentum und auf die Aufklärung verweisen, obwohl sich die beiden Positionen –ähnlich wie Katholizismus und Protestantismus- in einem jahrhundertelangen Kampf befunden haben .
Als Zeitalter der Aufklärung gilt das 18. Jahrhundert d.h. genauer etwa die Zeit um 1685-1815.
Der deutsche Philosoph Immanuel Kant beschreibt die Aufklärung 1784 mit den folgenden Worten:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. […] „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Der aufgeklärte Mensch ist in der Lage althergebrachte Autoritäten und Traditionen zu hinterfragen. Rationales Denken ermöglicht religiöse Toleranz und wissenschaftlichen Fortschritt, wodurch die Welt verbessert wird.
Zunächst einmal ist zu sagen, dass die Ideale der Aufklärung ganz klar gegen eine Sonderbehandlung der Türkei aufgrund der Religion sprechen.
Wenn es ein Aufnahmekriterium wäre, das Zeitalter der Aufklärung gebührlich durchlebt zu haben, dürften nur Frankreich, Deutschland und Großbritannien der EU angehören; kaum ein EU Land kann sonst einen Montesquieu, Kant, oder Hume vorweisen.
Die Aufklärung hat in Nord-, Ost- und Südosteuropa kaum bis gar nicht stattgefunden.
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Türkei mindestens so viel von der Aufklärung miterlebt hat, wie die meisten anderen EU-Mitgliedsländer.
Im 18. Jahrhundert gehörten große Teile (Südost-)Europas zum osmanischen Reich. Im Jahre 1683, also zu Beginn des Zeitalters der Aufklärung, standen die Türken zum zweiten Mal in Mitteleuropa, vor den Toren Wiens. Als europäische Großmacht ist es für die Türkei undenkbar gewesen von den Ideen und den politischen Auswirkungen der Aufklärung unberührt geblieben zu sein.
Gute Französischkenntnisse wurden –ähnlich wie in den übrigen Machtzentren Europas- zur Voraussetzung einer Karriere im Staatsdienst und eröffneten türkischen Intellektuellen die geistige Welt Europas. Selbstverständlich wussten die Türken was die Aufklärung ist, was ihre einflussreichen Philosophen für Ideen niederschrieben und was diese neue Bewegung für realpolitische Auswirkungen hatte. Das beschränkte sich nicht nur auf die Französische Revolution und die von ihr angestoßenen gesamteuropäischen Kriege. Ein Vielvölker-Imperium wie die Türkei es damals war, hält man nicht zusammen, indem man grundlegende gesellschaftliche Umbrüche –wie die Aufklärung- verschläft.
In der Türkei ist das Wort Europäisierung gleichbedeutend mit Modernisierung. In der Literatur wird unterstrichen, dass die Türkei schon seit über 200 Jahren dabei ist sich zu europäisieren bzw. modernisieren. Das Jahr 1773 wird als Anfang des Europäisierungsprozesses angesehen. Dieser erste Europäisierungs- und Modernisierungsschub wird in der Geschichtswissenschaft als islahat -Periode bezeichnet.
Im Sinne der Ideen der Aufklärung wurden im osmanischen Reich –im Gegensatz zu vielen heutigen EU Mitgliedsländern- tiefgreifende Reformen ab 1839 (Tanzimat-Reformperiode) durchgeführt. Hier wurde unter anderem das Rechtstaatsprinzip verwirklicht und die Eigentumsrechte der Bürger garantiert. Die Gleichstellung aller Bürger, ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit, wurde 1839 verordnet. Die Säkularisierung der Türkei fand durch die Tanzimat-Reformen etappenweise statt. Entgegen landläufiger Meinung war es also nicht der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, der damit begonnen hat, er war nur derjenige der den etwa hundertjährigen Säkularisierungsprozess vollendet hat .
1856 wurde die Kopfsteuer (jizya), die von nicht-Muslimen erhoben wurde, abgeschafft; 1858 das französische Strafrecht übernommen, etc. Die religiösen Gerichte bestanden vor allem im Familienrecht parallel weiter, es gab eigene Gerichtsbarkeiten für Muslime, Juden und Christen. Diese verloren jedoch an Bedeutung . Der Säkularisierungsprozess der Türkei ist nicht wesentlich jünger als der Säkularisierungsprozess anderer europäischer Länder. Beispielsweise wird für Deutschland das Jahr 1803 als Beginn des Säkularisierungsprozesses angegeben.
Das Ende der Tanzimat-Periode markiert das Jahr 1876, in dem die erste osmanische Verfassung verabschiedet wurde. Im Sinne der Aufklärung beschränkte die Verfassung die Macht des Monarchen und führte ein Parlament ein, welches sich aus der demokratischen Volkssouveränität legitimierte. Diese Verfassung war nur fünf Jahre jünger, als die deutsche Reichsverfassung von 1871.
Eine kontrovers diskutierte Institution hatte -zumindest offiziell- den Auftrag die Verbreitung der Aufklärungsideale in der Gesellschaft voranzubringen: der Orden der Freimaurer. Schon 1702, also 15 Jahre vor der ersten in London, wurde in Istanbul die erste Freimaurerloge gegründet. 1738 entstanden Logen in Izmir und Aleppo. Die Logen in der Türkei waren mitgliedsstark und hatten gesellschaftlich einflussreiche, ranghohe Mitglieder. Würde man die Aktivitäten der Freimaurerei als Gradmesser nehmen, müsste man die Türkei zu den aufgeklärtesten Ländern Europas zählen.
2.1.3 Erst müsse die Türkei die Zypernfrage lösen
Der UN Generalsekretär Kofi Annan hat von 1999 bis 2004 versucht den Zypernkonflikt diplomatisch zu lösen. Am Ende der Verhandlungen gab es im Jahr 2004 eine doppelte Volksabstimmung auf Nord- und Südzypern. Die de facto Republik Nordzypern, d.h. die türkische Seite, hat für die Lösung des Konfliktes gestimmt. Das griechische Südzypern hat gegen den Annan Plan und damit gegen die Beendigung des Zypernkonfliktes votiert. Die griechisch-zypriotische Seite ist also für das Bestehen des Zypernproblems verantwortlich und nicht die Türkei.
Außerdem hat die EU mit der Aufnahme (Süd-)Zyperns einen Fehler begangen, da sie damit gegen ihr Konditionalisierungsregime verstoßen hat. Obwohl 65% der türkischen Zyprioten für den Annan Plan und 75% der griechischen Zyprioten gegen den Plan, daher gegen die Lösung des Konfliktes gestimmt haben, wurden Letztere mit der Mitgliedschaft der EU belohnt. Als ob das nicht schon genug wäre, fordert die EU von der Türkei die bedingungslose Öffnung ihrer Häfen für Südzypern. Dass die EU dabei auf die unverminderte Beibehaltung des Embargos auf das türkische Nordzypern pocht, grenzt schon an imperialem Gehabe. Tatsächlich zu erwarten, dass die Türkei auf solche völlig inakzeptablen Forderungen eingeht, ist irrational. Daher ist das Zypern-Argument bezogen auf den Türkeibeitritt zur EU deplatziert.
2.1.4 Türken hätten kulturell bedingt eine anti-demokratische Mentalität
Die türkische Republik ist bereits 93 Jahre alt. Seit 1945 gibt es in der Türkei ein Mehrparteiensystem. Am 7. Juni wird in der Türkei die bereits 18. Parlamentswahl stattfinden. Darüber hinaus gibt es Regionalwahlen, Präsidentenwahlen und Volksabstimmungen, die allesamt im europäischen Vergleich hohe Wahlbeteiligungen vorweisen können.
Viele EU-Mitgliedsländer verfügen nicht über eine so langjährige demokratische Tradition wie die Türkei. Beispielsweise fanden die ersten Wahlen in Spanien erst 1977 statt. Andere Mitgliedsländer hatten ihre ersten Wahlen erst in den 1990er Jahren, da sie vormals kommunistische Diktaturen waren. Die demokratische Mentalität ist in der Türkei daher wesentlich tiefer verankert als in vielen EU-Mitgliedsländern.
Die Toleranz zur Homosexualität wird heutzutage auch als ein Gradmesser von Modernität und demokratischer Mentalität gesehen. Bemerkenswert ist, dass im osmanischen Reich unter Abdulmecid I. (der westliche Bildung erfuhr und fließend Französisch sprach) die Homosexualität bereits im Jahr 1858 entkriminalisiert wurde. Das war sehr lange vor den meisten anderen europäischen Ländern. Zum Vergleich werden die Zeitpunkte der Entkriminalisierung von Homosexualität anderer EU-Mitglieder genannt: Frankreich 1791, Dänemark 1933, Deutschland 1969, Portugal 1983, Spanien 1979, Griechenland 1951, Irland 1993, Rumänien 1996, Österreich 1971.
Bezogen auf Toleranz zur Homosexualität muss man den Türken also eine moderne demokratische Mentalität zugestehen.
Auch bezogen auf das Frauenwahlrecht kann sich die kulturelle Reife der Türkei mühelos mit anderen europäischen Ländern messen. Bereits 1924 erlangten Frauen das aktive und passive Wahlrecht in der Türkei. Das war nur sechs Jahre nach Deutschland und ganze 20 Jahre vor der Einführung des Frauenwahlrechts in Frankreich im Jahre 1944. Außerdem war mit Tansu Çiller von 1993-1996 eine Frau Premierministerin der Türkei. Wenig früher kam mit Edith Cresson die erste französische Premierministerin ins Amt, während viele europäische Länder bis heute keine weibliche Regierungschefin vorweisen können. Auch nach dem Kriterium der ersten weiblichen Regierungschefin weist die Türkei eine vorbildliche demokratische Mentalität auf.
Das Argument, Türken hätten eine demokratiefeindliche Mentalität, wird daher als irrationaler Stammtisch-Populismus abgelehnt.
2.1.5 Eine „privilegierte Partnerschaft“ genüge der Türkei
Die „privilegierte Partnerschaft“ wurde, seitens der deutschen CDU/CSU, anstelle der Vollmitgliedschaft vorgeschlagen. Dieser Vorschlag wird von Beobachtern jedoch als diplomatische Grobheit gewertet.
Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zielen auf eine Vollmitgliedschaft ab. Spätestens seit dem Beitritt zur europäischen Zollunion, ist die Türkei schon längst in einer privilegierten Partnerschaft mit der EU.
Es handelt sich also bei der „privilegierten Partnerschaft“ um bloßen Euphemismus. Die Ablehnung des Türkeibeitritts wird mit dieser leeren Worthülse beschönigt. Im Klartext bedeutet „privilegierte Partnerschaft“ nichts anderes als unterprivilegierte Partnerschaft. Nach den weltfremden Wunschvorstellungen rechter Parteien soll sich die Türkei der EU als Staat zweiter Klasse unterordnen. Das diplomatische Ungeschick und der Mangel an Empathie, den diese Politiker an den Tag legen, ist befremdlich. Erwarten sie tatsächlich von der Türkei, dass sie, nach jahrzehntelangem Ringen um eine EU-Mitgliedschaft, dieses erniedrigende Angebot annimmt? Das ernsthaft zu erwarten ist irrational und wird daher an dieser Stelle ebenso vehement abgelehnt, wie seitens der türkischen Regierung und der EU-Kommission.
2.2 Irrationale Argumente auf türkischer Seite
2.2.1 Wie in Griechenland würde die Mitgliedschaft zu Wirtschaftskrisen führen
Hier wird die EU Mitgliedschaft mit einer Mitgliedschaft in der Eurozone verwechselt. Auch gibt es sehr spezifische Probleme in Griechenland (kein funktionierendes Steuereintreibungssystem, kaum vorhandene Industrie, etc.), die nicht in der Türkei bestehen. Dieses Argument ist deswegen irrational, weil es nicht für den Türkeibeitritt zur Europäischen Union zutrifft.
2.2.3 Die EU wolle Istanbul zum Zentrum der Orthodoxen etablieren
Dieses irrationale Argument stützt sich auf die Weltsicht, dass die EU ohnehin nur ein „Christenclub“ sei und die Aufnahme der Türkei nur dazu diene, Istanbul in das christliche Konstantinopel zurückzuverwandeln. Internationale dunkle Mächte wollen nach dieser Theorie die türkische Eroberung Konstantinopels durch Mehmed II. im Jahr 1453 rächen, indem sie die Türkei zur EU aufnehmen, nur um die Wiedereröffnung des Seminars von Chalki (christlich orthodoxe Priesterschulen auf den Inseln Heybeliada und Yassiada) zu erwirken. Durch die Eröffnung dieser Schulen solle eine Art orthodoxer Vatikan und damit ein Trojanisches Pferd in der strategisch wichtigen Stadt Istanbul errichtet werden.
Man muss schon eine blühende Phantasie haben, um so einer Verschwörungstheorie Glauben zu schenken. Leider mangelt es nirgendwo an solchen Menschen. Dass dieses Verschwörungs-Argument irrational ist, weiß auch die AKP-Regierung. Seit Jahren versucht sie, auch gegen Opposition von links und rechts, eine diplomatische Lösung für dieses internationale Problem zu finden.
1844 (d.h. unter türkischer Herrschaft) wurde das christlich-orthodoxe Kloster auf Heybeliada eröffnet. 1896 wurde das Kloster als Priesterschule (bestehend aus einer Oberstufe und einer Hochschule) umfunktioniert. Laut Erzbischof Elpidophoros Lambriniadis (Metropolit der Stadt Bursa) gab es 127 Jahre lang keine Einschränkungen im Betrieb auf Heybeliada, von 1844 bis ins Jahr 1971.
Nach dem Militärputsch 1971 wurden in der Türkei alle privaten Hochschulen geschlossen, also auch das griechisch-orthodoxe Priesterseminar auf Heybeliada.
Der Vertrag von Lausanne der 1923 u.a. die heutigen Grenzen zwischen der Türkei und Griechenland sowie den Bevölkerungsaustausch regelt, schreibt im Artikel 45 für Verbesserungen der griechischen bzw. türkischen Minderheit in einem Land eine wechselseitige Verbesserung der Minderheit in dem jeweils anderen Land vor.
Wenn also türkische Regierungsvertreter für die Wiedereröffnung der Priesterschulen und der Eigenständigkeit der orthodoxen Geistlichkeit (des „Ökumenischen Patriarchats”) im Gegenzug von Griechenland Verbesserungen für die stark benachteiligte türkische Minderheit in Griechenland verlangen, geschieht das auf der Grundlage von geltendem Recht. Eine oberlehrerhafte Beschwerde darüber, dass die Priesterschulen als “Faustpfand” verwendet werden, offenbart daher nur mangelnden Sachverstand.
Ähnlich wie auch im Zypernkonflikt ist die griechische Seite nicht auf die berechtigten Forderungen der Türkei eingegangen und hat die Lösung des Konflikts blockiert. Daher kann man den Status des Seminars von Chalki nicht als Argument gegen die Türkei verwenden.
2.2.3 Die Türkei habe bessere Alternativen anstelle der EU Mitgliedschaft
In Europa oder zumindest in Deutschland ist die Annahme stark verbreitet, dass alle Türken unbedingt in die EU wollten. In der Realität gibt es sehr viele Türken, die der EU skeptisch gegenüberstehen und alternative internationale Bündnisse bevorzugen.
Einige alternative Konzepte sollen daher vorgestellt werden:
1. EU-Alternative: Neo-Osmanismus
Vorgänger der Republik war das Osmanische Reich, dass das Kalifat der Muslime innehatte. Nach dieser Ideologie soll die Türkei, wie zu osmanischen Zeiten, die Gemeinschaft der Muslime, d.h. die Umma vereinen.
Diese Idee hatte besonders während des arabischen Frühlings auftrieb erfahren. Leider ist der arabische Frühling mittlerweile zum arabischen Winter entartet. Ein gefährlicher Konfessionskrieg breitet sich im Nahen Osten aus. Die Hoffnungen auf eine Demokratisierung der arabischen Welt sind für mehrere Generationen erloschen.
Schon allein aus diesen Gründen bildet der Neo-Osmanismus, zumindest auf absehbare Zeit, keine reale Alternative zur EU-Vollmitgliedschaft.
2. EU-Alternative: Türkismus (Turanismus)
Was vielen in Europa nicht bewusst ist, ist die Tatsache, dass es über 200 Millionen Menschen mit türkischer Muttersprache gibt. Es gibt also eine türkische Welt, die ähnlich groß ist wie die arabische Welt.
Geistiger Vater des Turanismus ist Ziya Gökalp (1876-1924), dem eine Symbiose zwischen Islam und Nationalismus vorschwebt. Dabei wird auf ethnische Abgrenzungen verzichtet. Jeder der sich als Türke wahrnimmt gehört nach Gökalp zur großtürkischen Gemeinschaft.
Seine Vision formulierte Gökalp folgendermaßen: „Turan ist kein illusorisches Vaterland. Die in Asien nebeneinander wohnenden türkischen Stämme werden sich unter der türkischen Fahne sammeln und ein großes Kaiserreich bilden. Turan ist das Vaterland des Großtürkentums.“
Abbildung. 1: Gebiete in denen überwiegend türkisch gesprochen wird.
Quelle: Glück 2010, Metzler Lexikon Sprache, S.659.
Ebenso wie sich Österreicher, Schweizer oder Luxemburger mit deutscher Muttersprache nicht Deutsche nennen, nennen sich Aserbaidschaner, (Krim-)Tataren, Uyguren usw. nicht Türken, obwohl sie eigentlich dieselbe Sprache sprechen.
Auf dieser Idee aufbauend wurde die „Cooperation Council of Turkic Speaking States“ (oder kurz „Turkic Council“) gegründet. Die Mitgliedsländer sind: Türkei, Aserbaidschan, Kirgisien, Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan.
Mit Ausnahme der Türkei handelt es sich hier um autokratische Staaten. Außerhalb dieser Länder leben die türkischen Muttersprachler als unterdrückte Minderheit. Besonders viele leben in Iran, China (autonome Gebiet Xinjiang, wird inoffiziell als „Ost-Türkistan“ bezeichnet) und Russland.
Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass eine Zusammenarbeit mit diktatorischen Regimen und unterdrückten Minderheiten keine Alternative zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union darstellen kann.
3. EU-Alternative: Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit
Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (kurz SOZ) ging aus der Shanghai-Five hervor. Die SOZ wird von China und Russland geführt. Ihr gehören außerdem noch folgende Mitgliedsländer an: Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Darüber hinaus haben Indien, Iran, Afghanistan, Pakistan und die Mongolei den Beobachterstatus. Neben Weißrussland und Sri Lanka ist die Türkei seit dem Jahr 2012 offizieller Dialogpartner der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.
In Abbildung 2 sind die Mitgliedsländer rot, die Dialogpartner orange und die Dialogpartner in gelb eingezeichnet.
Abbildung 2: Die SOZ und ihre potentielle Erweiterung
Quelle: Kurbatov 2012
Die SOZ kann man aber nicht mit der EU vergleichen. Es handelt sich viel eher um einen Gegenpol zur NATO.
Da diese Organisation offiziell von Russland und China geführt wird, müssen sich die übrigen Mitgliedsländer unterordnen. Der Grund warum die Türkei überhaupt Alternativen sucht war ja, dass sie zu stolz dafür ist, sich den übrigen EU-Ländern unterzuordnen (unter dem Decknamen der „privilegierten Partnerschaft“). Eine Mitgliedschaft in der SOZ setzt aber ebenfalls eine Unterordnung voraus. Auch wäre der Einfluss der Türkei, insbesondere wegen der gigantisch großen Bevölkerung Chinas, wesentlich unbedeutender als in der EU; in der die Türkei das (zweit-)bevölkerungsreichste Land wäre.
Außerdem würde die Mitgliedschaft in der SOZ zu einem Konflikt mit der NATO-Mitgliedschaft der Türkei führen. Es handelt es sich bei den Mitgliedsstaaten der SOZ allesamt um autokratische Regime. Eine Mitgliedschaft zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit bildet daher keine sinnvolle Alternative zur EU-Mitgliedschaft.
Die Europäische Union ist ein weltweit einzigartiges Zivilisationsprojekt. Es findet nicht nur eine wirtschaftliche und sicherheitspolitische sondern auch eine politische Integration statt.
Von keinem der drei vorgestellten Alternativen würden positive Impulse für die Modernisierung oder Demokratisierung der Türkei ausgehen. Diese internationalen Zusammenschlüsse können nicht als Alternative, sondern höchstens als Ergänzung zur EU-Mitgliedschaft betrachtet werden.
3. Die übriggebliebenen Gegenargumente
3.1 Angst vor drastischer türkischer Migration
Mit völlig aus der Luft gegriffenen Annahmen von zehn bis 18 Millionen Menschen, die nach einem Türkeibeitritt die EU überfluten würden, betreiben Beitrittsgegner Panikmache.
Die Erfahrungen nach dem Beitritt anderer südeuropäischer Länder haben diese aus der Luft gegriffenen Prognosen widerlegt. Entweder kam es zu einem nicht erwähnenswerten Zuwanderungsüberschuss –aus Griechenland und Portugal- oder es kam zu einer deutlichen Abwanderung in das Heimatland, wie im Falle von Spanien. Innerhalb von zwölf Jahren nach der EU Mitgliedschaft, kam es beispielsweise in Deutschland zu einem negativen Wanderungssaldo von Griechen, Portugiesen und Spaniern von etwa 150.000 Menschen.
Da der EU Beitritt der Türkei, eine weitere Verbesserung und Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei erwarten lässt, ist es nur logisch anzunehmen, dass sich der seit 2006 in Deutschland bestehende negative Wanderungssaldo von Türken weiter verstärken würde. Außerdem verschweigen die Panikmacher, dass der Türkeibeitritt ohnehin nur in Kombination einer mehrjährigen Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit –wie sie im Rahmen der EU-Osterweiterung 2004 praktiziert wurde- diskutiert wird.
Die EU Mitgliedschaft der Türkei würde also –wie die Erfahrung zeigt und aufgrund rechtlicher Einschränkungen- keine nennenswerte türkische Migration, sondern viel eher eine Emigration (Auswanderung) aus den übrigen EU Ländern einleiten.
3.2 Kosten durch erhöhte EU-Aufbauhilfen
Ähnlich unglaubwürdige Prognosen wie bei der Zuwanderung aus der Türkei entwickeln Beitrittsgegner bei der Schätzung der Kosten. Dabei betreiben sie öffentliche Panikmache mit frei erfundenen Zahlen von 20 bis 40 Milliarden Euro pro Jahr.
Seriöse Modellberechnungen für die Gesamtkosten des Türkeibeitritts für die EU liegen weit unter diesen realitätsfernen Fantasien: Die EU-Haushaltskommissarin Michaele Schreyer beziffert die Gesamtkosten bei zehn bis 15 Milliarden Euro. Das Osteuropa Institut München ermittelt Kosten von maximal 14 Milliarden Euro. Die deutsche Industrie und Handelskammer zu Istanbul errechnet Gesamtkosten von acht Milliarden Euro. Anhand einer Studie, die auf ein partielles Gleichgewichtsmodell aufbaut, kommt Grethe zu dem Ergebnis, dass der Türkeibeitritt 6,3 Milliarden Euro kosten würde. Quaisser und Wood beziffern die Gesamtkosten dagegen auf 20,9 Milliarden Euro.
Eine Größenordnung von insgesamt 6 bis 15 oder maximal 20 Milliarden Euro ist ein geringer Preis, wenn man die Vorteile auf beiden Seiten bedenkt. Durch dieses Geld wird die wirtschaftliche und demokratische Entwicklung der Türkei finanziert. Der Wachstumsmarkt Türkei wird für Europa gestärkt. Die EU (insbesondere Deutschland) ist der wichtigste Handelspartner der Türkei. Diese Kosten sind daher keine versunkenen Kosten, sondern stellen für die EU eine lohnende Investition in die eigene wirtschaftliche Zukunft dar.
Da es sich bei der Türkei um ein Schwellenland handelt, besteht ein großer wirtschaftlicher Aufholbedarf. Die junge Bevölkerung hat das Potenzial diesen Bedarf zu decken. Der Wachstumsmotor Türkei wird deswegen auch als „anatolischer Tiger“ bezeichnet.
3.3 Verlegung der EU-Grenzen in Krisengebiete
Die Türkei grenzt an die Krisengebiete Syrien, Irak, Iran sowie an den Kaukasus. Beitrittsgegner argumentieren, dass die Sicherheit der EU durch die Verlegung der EU-Grenzen an diese Krisengebiete gefährdet sei.
Beitrittsbefürworter sehen dagegen die Verlegung der EU Grenzen in diese Gebiete als Chance und betonen, dass Europa sicherer und nicht unsicherer wird. Durch das stabile Mitgliedsland Türkei kann die EU einen positiven Einfluss auf diese Krisengebiete ausüben. Die Flüchtlinge aus diesen Krisengebieten kommen heute auch in die EU. Wie zuletzt die Anschlagsserie in Paris gezeigt hat, gelangen leider auch terroristische Attentäter in die EU. Wenn die EU vor Ort wäre, könnte sie den Flüchtlingsstrom vor Ort regulieren und diese Krisen viel wirksamer eindämmen. Einerseits, da durch die EU Mitgliedschaft die Stabilität und Prosperität der Türkei eine positive Strahlwirkung auf die Region sendet und andererseits, da die EU problemlos vor Ort krisenhemmende Institutionen aufbauen kann. Der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer fasst zusammen:
So wichtig die Militärmacht der Türkei während des Kalten Krieges für die Sicherheit Westeuropas auch immer gewesen sein mag, so ist heute, nach dem 11. September und angesichts der strategischen Gefahr, die potentiell von der unmittelbaren Nachbarregion des Nahen und Mittleren Ostens für Europa ausgeht, die feste Verankerung der Türkei und ihre gelungene Modernisierung für die europäischen Sicherheitsinteressen geopolitisch noch um Faktoren wichtiger.
Durch die Ablehnung der EU-Mitgliedschaft schwächen Türkeibeitrittsgegner nicht nur die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung der Türkei, sondern auch die Stabilität des Nahen Ostens und letztlich auch die Sicherheit der Europäischen Union.
3.4 Die Türkei sei nicht weit genug
Es ist unbestritten, dass die Türkei noch Reformbedarf hat. Was sie in den letzten Jahren geleistet hat, ist schon beachtlich. Der Reformeifer wird aber geschwächt, wenn die EU immer wieder die Beitrittsperspektive in Frage stellt. Das und der Aufstieg von rechts-populistischen Parteien und Bewegungen in Europa führen dazu, dass die Beitrittsperspektive in der Türkei immer unglaubwürdiger wird. Dies schwächt naturgemäß den in erster Linie von der EU-Perspektive befeuerten Reformprozess in der Türkei.
Der Reformprozess nutzt in erster Linie der türkischen Bevölkerung, er sollte daher beschleunigt werden; darin sind sich alle Beobachter einig. Der mit den Kopenhagener Kriterien verknüpfte Wertekatalog fasst die Grundfreiheiten und Bürgerrechte zusammen. Die Erlangung dieser Grundfreiheiten (z.B. Rechtssicherheit, Religionsfreiheit, freie Meinungsäußerung, Minderheitenschutz) ist das Ziel des türkischen (ebenso wie das Ziel jedes anderen) Demokratisierungsprozesses.
4. Argumente für den Türkeibeitritt
4.1 Europas Wurzeln sprechen für und nicht gegen den Türkeibeitritt
Der ehemalige Bundespräsident Theodor Heuss sagte einmal, dass die Wurzeln Europas auf drei Hügeln liegen würden : Christentum, griechische Philosophie und römisches Recht. Türkeibeitrittsgegner gebrauchen diese Aussage bornierterweise dafür, um zu argumentieren, dass die Türkei angeblich nicht zu Europa gehöre.
Dabei wird bei näherem Hinsehen klar, dass alle drei dieser „Hügel“ zu einem großen Teil in der Türkei liegen.
Hügel: Römisches Reich und mit ihm das römische Recht beinhaltete das Gebiet der Türkei. Nach der Aufteilung des Römischen Reiches in zwei Teile, war die Türkei das Zentrum des oströmischen Reiches. Byzantinische Bauten prägen heute noch das Stadtbild –insbesondere, aber nicht nur- Istanbuls.
Hügel: Christentum: Die Türkei war ein wichtiges Zentrum des Christentums. Der bedeutendste Apostel für die Verbreitung des Christentums war Paulus von Tarsus. Tarsus liegt in der Südtürkei. Die türkische Stadt Iznik (Nicäa) ist nach Jerusalem und dem Vatikan die drittheiligste Stadt für Christen. Hier fanden 325 und 787 die Konzile von Nicäa statt, in denen die Vertreter des Christentums über den Inhalt und das Schicksal ihrer Religion bestimmten. Der Geschenke verteilende St. Nikolaus (270-343), nach Jesus der bekannteste Christ überhaupt, hat ebenfalls in der Türkei gelebt. Ein Christentum ohne die Türkei wäre ein Christentum ohne die Konzile von Nicäa, ohne Paulus und St. Nikolaus; dieses Christentum wäre kurz gesagt undenkbar.
Hügel: Das antike Griechenland beinhaltete die (West-)Türkei. Die antiken griechischen Philosophen Homer, Diogenes, Thales, Herodot und viele andere lebten und wirkten in der heutigen Türkei. Die Ruinen von Troja und Ephesus kann man in der Türkei bestaunen. Das antike Griechenland wäre ohne das Gebiet der Türkei ihren wichtigsten Eigenschaften beraubt.
Die meist aus christlichen Motiven argumentierenden Beitrittsgegner sind unseriös, da sie verschweigen, dass das antike Erbe Europas – vor allem aufgrund des wissenschaftsfeindlichen Einflusses der christlichen Kirchen- längst vergessen war. Muslimische Gelehrte waren es nämlich, welche die die Errungenschaften des antiken Griechenlands wiederentdeckten, weiterentwickelten und den Europäern weiterleiteten. Die Schriften von Ibn Sina (auch bekannt als Avicienna, 980-1037) waren beispielsweise jahrhundertelang das Standardwerk für europäische Mediziner. Ebenso gehen wichtige wissenschaftliche Errungenschaften in der Mathematik (arabische Zahlen“, Trigonometrie, Algebra -arabische Wortherkunft „al jabir“-, Algorithmus -arabische Wortherkunft „al gorism“-); in der Astronomie; der Chemie (Wortherkunft bezieht sich auf das arabische „al kimiya“), Geographie (Wortherkunft bezieht sich auf das arabische „jografya“) und Philosophie auf muslimische Gelehrte zurück. Der Kulturtransfer von der Antike nach Europa fand auf der muslimischen Brücke statt.
Erst mithilfe der Muslime wurde das wissenschaftsfeindliche, kirchenhörige, von Hexenverbrennungen geprägte, „finstere“ Mittelalter in Europa durch die Renaissance, d.h. durch die Epoche der Neuzeit, abgelöst.
Es grenzt daher beinahe an Schizophrenie, wenn sich christliche Apologeten mit einem Atemzug sowohl auf das Christentum als auch auf die Renaissance berufen, um die EU-Mitgliedschaft der muslimischen Türkei abzulehnen.
Die Türkei ist Teil der griechischen Philosophie, der christlichen und römischen Geschichte und somit auch ein Teil der historischen Wurzeln Europas. Selbst der Name Europa stammt von der phönizischen Prinzessin „Europa“ und bezieht sich auf das Gebiet der heutigen Türkei.
4.2 EU als Katalysator demokratischer und ökonomischer Entwicklung der Türkei
Die in Kapitel 1 erwähnten demokratischen Reformen in der Türkei wären ohne die EU-Beitrittsperspektive politisch nicht realisierbar gewesen. Insbesondere die Zurückdrängung des Militärs konnte nur durch einen breiten Konsens in der Bevölkerung verwirklicht werden.
Neben der Landesverteidigung sah sich das türkische Militär als Hüter der kemalistischen Staatsdoktrin gegenüber anti-laizistischen Tendenzen. Die demokratischen Reformen wurden von der EU vorgegeben und im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses durchgeführt. Daher gab es auch keine Zweifel darüber, ob mit den weitreichenden Reformen das Regime in Gefahr sei. Die Oppositionsparteien haben sich nicht quergestellt, sondern konnten durch den Demokratieförderer EU von der Notwendigkeit und Aufrichtigkeit der Reformen überzeugt werden. Die Konfliktlinie zwischen Religion und Staat war in der Geschichte der türkischen Republik gravierend und birgt noch heute ein ernst zu nehmendes Konfliktpotenzial.
In der Vergangenheit wurde die Religionsfreiheit der Bürger eingeschränkt mit dem Verweis auf die Erhaltung des Regimes. Der Staatsstreich von 1997 wurde mit diesem Vorwand durchgeführt. Aus demselben Grund hat der damalige Generalstabschef der türkischen Streitkräfte Büyükanit am 27.04.2007 eine später als „E-Memorandum“ bezeichnete Erklärung abgegeben, die beinahe zu einer Staatskrise führte. Damit reagierte der Generalstabschef darauf, dass der damalige Außenminister Abdullah Gül als Präsidentschaftskandidat ernannt wurde. Der General störte sich daran, dass die künftige First Lady ein Kopftuch trägt. Das Verbotsverfahren gegen die amtierende AKP-Regierung entbrannte ebenfalls anhand dieser Konfliktlinie. Es wurde nur mit knapper Mehrheit abgewendet.
Die EU-Vollmitgliedschaft würde den in der Türkei zentralen Konflikt zwischen Staat und Religion weiter eindämmen. Die EU garantiert als neutrale dritte Partei mit ihren universellen Normen beiden Lagern einen annehmbaren Kompromiss. Sowohl die Staatsform als auch die Religionsfreiheit werden durch die EU-Vollmitgliedschaft garantiert und dieser Konflikt endgültig aufgelöst.
Eine weitere zentrale Konfliktlinie der Türkei ist die lähmende Auseinandersetzung mit der ethnisch-separatistischen Terrororganisation PKK.
Der PKK-Konflikt tobt in der Türkei seit 1984 und hat bisher über 40.000 Todesopfer gefordert. Wie im vorherigen Konflikt ist auch hier das Militär ein zentraler Akteur. Aufgrund dieses Konfliktes konnte im terrorgeplagten Osten des Landes kaum in die wirtschaftliche Infrastruktur investiert werden.
Wie bereits erwähnt, führte die AKP-Regierung umfangreiche Reformen im Bereich Minderheitenrechte durch. Das Erlernen des Kurdischen sowie der Gebrauch in Presse und Rundfunk wurden erlaubt. Mehr noch mit TRT 6 wurde ein staatlicher Fernsehkanal eingerichtet, der ausschließlich auf kurdisch sendet.
Im Falle des EU-Beitritts werden EU Richtlinien bezüglich des Schutzes von Minderheiten übernommen. Das würde der Terrororganisation PKK noch weiter den Wind aus den Segeln nehmen, denn sie versucht sich durch die (angebliche) Drangsalierung der kurdischen Ethnie zu legitimieren.
Die EU-Mitgliedschaft wird deswegen zum Katalysator der demokratischen und wirtschaftlichen Entwicklung, weil sie die beiden zentralen Konflikte des Landes nachhaltig entschärfen kann. Die EU fungiert als neutrale Schiedsinstanz, die einen Ausgleich zwischen Staatsdoktrin und Religionsfreiheit sowie zwischen Nationalstaat und Minderheitenrechten herstellen kann. Das führt zu Stabilität und die destruktiv gegeneinander verwendeten Energien können nunmehr einen konstruktiven Beitrag für die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Türkei leisten.
4.3 Europäische Türken und EU-Türkei als doppelte Brücke
Laut einer Studie der Stiftung TAVAK (Turkish-European foundation for education and scientific studies) leben heute, also über 50 Jahre nach der Arbeitsmigration nach Europa, 5,4 Millionen türkischstämmige Migranten in der EU. Wenn man die ethnischen Türken auf dem Balkan mitzählt (allein in Bulgarien sind es mit 650.000 Personen etwa 9% der Bevölkerung ), kommt man auf über sechs Millionen Türken in der EU. Davon lebt die Hälfte, also drei Millionen in Deutschland.
Die Bindungen zwischen Deutschland und der Türkei sind daher besonders stark. Die Türkei ist mit 5 Millionen Personen im Jahr das beliebteste Reiseziel der Deutschen. Der wichtigste Handelspartner und der größte ausländische Investor der Türkei ist ebenfalls Deutschland.
In der EU erwirtschaften 150.000 türkischstämmige Unternehmer (80.000 in Deutschland) einen Umsatz von 63 Milliarden Euro (38 Milliarden in Deutschland) und stellen 627.000 Arbeitsplätze (davon 380.600 in Deutschland) zur Verfügung. Die Investitionen betragen 16,3 Milliarden Euro (10,3 Milliarden Euro in Deutschland). Es gibt aktuell 57.000 türkischstämmige Studenten in Deutschland und 80.000 in der EU.
Die türkische Bevölkerung in der EU ist größer als die Bevölkerung von zwölf EU-Mitgliedsländern; namentlich von Malta, Luxemburg, Zypern, Estland, Slowenien, Lettland, Litauen, Kroatien, Irland, Finnland, Slowakei und Dänemark. Beziehungsweise beträgt die türkische EU-Bevölkerung mehr als die Gesamtbevölkerung der fünf kleinsten EU-Mitgliedsländer zusammengenommen. Die Türken in Europa stellen eine Brücke zwischen Europa und der Türkei, zwischen christlicher- und islamischer Welt her und widerlegen die These des „Kampfes der Kulturen“ von Samuel Huntington.
Ebenso würde die EU Mitgliedschaft der Türkei eine Brücke für den Weltfrieden in den Köpfen der Menschheit erzeugen und zeigen, dass ein „Kampf der Kulturen“ unnötig und irrational ist.
4.4 Geostrategische Lage der Türkei ist zentral für die Energiesicherheit der EU
Die Türkei ist der Hauptakteur in der Diversifikationsstrategie der europäischen Energiesicherheit. Die EU-Kommission erwartet für das Jahr 2026, inklusive der Einsparung durch erneuerbare Energien, einen Anstieg der Abhängigkeit von importiertem Gas und Öl auf 80% bzw. 90%. Die Ölzufuhr ist bereits diversifiziert, aber der Gashahn nach Europa kann in Moskau abgedreht werden. Als Russland der Ukraine im Jahr 2006 das Gas abdrehte, ist man sich in Europa dieser gefährlichen Abhängigkeit noch einmal bewusster geworden.
Abbildung 3: Erdgasrouten in Europa
Quelle: The Economist 2007, http://www.economist.com/node/9009041
Die jüngsten Ereignisse im halb offiziellen Russland-Ukraine Krieg unterstreichen noch einmal die Dringlichkeit der Diversifikation für die europäische Energiesicherheit.
Wie man in der obigen Abbildung erkennen kann, kommt das Erdgas nur auf zwei Routen nach Europa: über Russland oder die Türkei. Die Türkei kann das einzige nicht-russische Erdgas transportieren, also aserbaidschanisches und potentiell auch turkmenisches, irakisches oder bei einer endgültigen Lösung des Atomstreits sogar iranisches Erdgas. Um die Gasversorgung zu diversifizieren, daher unabhängiger von Russland zu werden, gibt es für Europa nur einen Weg und der führt durch die Türkei.
Eine Ablehnung der Türkeimitgliedschaft könnte in Verbindung einer Annäherung der Türkei an Russland – beispielsweise im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit- die europäische Energiesicherheit gefährden. Der Türkeibeitritt würde dagegen die Energiesicherheit der EU gegen das derzeit aggressiv expandierende Russland absichern.
##4.5 Nur mit der Türkei kann die EU zu einer Hard Power werden
Der EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker hat sich jüngst für eine EU-Armee ausgesprochen und erhält dabei Zustimmung seitens deutscher Spitzenpolitiker. Mit Blick auf den Ukraine Konflikt sagte er, dass Europa Russland den Eindruck vermitteln soll, dass man europäische Werte auch mit Gewalt verteidigen kann.
Sicherlich ist dieser Wunsch nicht nur auf Russland bezogen. Der NSA-Skandal bei dem aufgeflogen ist, dass europäische Spitzenpolitiker, Unternehmen und Bürger systematisch von den USA ausspioniert werden, hat sicherlich auch zu diesem emanzipatorischen Wunsch beigetragen. Europa muss sich die Frage stellen, ob es weiterhin im Schatten der USA verbleiben will, oder ob sich die wirtschaftliche Großmacht Europa auch militärisch mit anderen Großmächten auf Augenhöhe begeben will.
Falls sich Europa zumindest die Option offen halten will, aus dem amerikanischen Schatten springen zu können, oder daran denkt ein von diesem Schatten unabhängiges, eigenständiges Abschreckungspotential gegen russische Expansionsgelüste aufzubauen, führt kein Weg an der Aufnahme der Türkei in die Europäische Union vorbei.
Falls die EU weiterhin nur eine Soft Power bleiben will, daher ein wirtschaftlicher Riese und gleichzeitig ein militärischer Zwerg, der seine materiellen Interessen nicht eigenständig vertreten kann, darf sie auf die Türkeibeitrittsgegner hören. Die Türkei besitzt nach den USA die größte Armee der NATO. Im Falle einer endgültigen Ablehnung der Türkei könnte sich die Türkei andere Bündnispartner suchen (beispielsweise eine diskutierte Mitgliedschaft der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit ) und das ohnehin schon geringe militärische Gewicht der EU wäre durch die Abwendung der Türkei noch bedeutungsloser.
Die EU sollte versuchen, sich die militärische Stärke der Türkei einzuverleiben, sonst wird das militärische Gewicht der Türkei möglicherweise gegen europäische Interessen eingesetzt.
Die Türkei ist viel zu stolz, um sich nach 50 Jahren Beitrittsprozess mit leeren Worthülsen wie der „privilegierten Partnerschaft“ abzuspeisen und sich „ewig fest an Europa zu verankern“. Die beste Lösung ist für die Türkei zwar die Vollmitgliedschaft in der EU. Die zweitbeste Lösung ist es aber sicherlich nicht, auf ewig ein unterprivilegierter Partner der EU zu sein. Um eine Hard Power werden zu können, muss daher die Europäische Union der Türkei die EU-Vollmitgliedschaft zuerkennen.
#5. Fazit
Die Gründungsväter der Europäischen Union hatten eine klare Vision. Um zu einem friedlichen und prosperierenden Europa zu gelangen, sollten konfessionelle, kulturelle, sprachliche und ethnische Unterschiede bei Seite geschoben werden, damit auf der Basis universeller Werte wie Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte eine wirtschaftliche und politische Union in Europa vorangetrieben werden kann.
Europäisierung ist in der Türkei ein Synonym für Modernisierung. Wie in dieser Analyse erörtert wurde, hat diese Europäisierung/Modernisierung eine 200 jährige Tradition. Die Türkei klopft seit über 50 Jahren, seit dem Assoziierungsabkommen 1963, an die Türen der jeweiligen Institutionen der europäischen Gemeinschaft. Die Türkei glaubt an die universellen Werte der Europäischen Union und will gleichberechtigter Teil dieses einzigartigen Zivilisationsprojektes werden.
Wie wir ermittelt haben, sind die meisten Einwände gegen den Beitritt irrational. Die Argumente für den Türkeibeitritt überwiegen mit Leichtigkeit die Gegenargumente. Bei rationaler Betrachtung kommt es zu einer win-win-Situation für beide Seiten. Ein türkisches Sprichwort lautet „düşünebilenler için aklın yolu birdir“, d.h. „für Menschen, die Denken können, gibt es nur einen (richtigen) Weg.“ Eine englische Entsprechung des Sprichwortes lautet „Great minds think alike“. Bei nüchtern-sachlicher, rationaler Betrachtung liegt die Notwendigkeit des Türkeibeitritts auf der Hand.
Leider erstarken aber die irrationalen, radikalen Kräfte in Europa, die nicht mit rationaler Argumentation überzeugt werden können. Sie lehnen den Türkeibeitritt nicht aufgrund von rationalen Überlegungen, sondern aufgrund von Vorurteilen ihrer anachronistischen Weltanschauung prinzipiell ab. Besonders aufgrund der Wirtschaftskrise in Europa finden rechtspopulistische, europakritische, xenophobe und islamfeindliche Parteien und Bewegungen in Europa stärkeren Zulauf. Eine Parallelität mit den Entwicklungen nach der „Great Depression“ im Vorfeld des zweiten Weltkrieges lassen den aufgeklärten Beobachter erschrecken. Der Türkeibeitritt ist eine großartige Chance, diese irrationalen Kräfte in Europa in die Bedeutungslosigkeit zurechtzuweisen, in die sie gehören.
Der Türkeibeitritt stärkt die Europäische Union sowie die Türkei von innen und außen, neutralisiert die irrational-populistischen, demokratiefeindlichen Bewegungen auf beiden Seiten und leistet einen enormen Beitrag für den Weltfrieden.
Es wird an dieser Stelle den politischen Entscheidungsträgern, den (akademischen) Meinungsmachern in der Zivilgesellschaft sowie den Unternehmensvertretern in der Türkei eindringlich empfohlen am Beitrittsprozess und den europäischen Reformbemühungen festzuhalten, sie einzufordern und voranzutreiben.
Gleichfalls wird an die Rationalität der europäischen Akteure appelliert. Die rational kalkulierten Interessen der EU forcieren den Türkeibeitritt. Mit Ausweichmanövern wie der „privilegierten Partnerschaft“ kann die Türkei nicht mehr länger hingehalten werden. Die EU muss sich auf ihre eigenen universellen Werte besinnen und die populistischen, xenophoben und demokratiefeindlichen Kräfte in ihre Schranken verweisen.
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