Oder einfach nur müde?
Ein Blick hinter die Kulissen eines Zustandes
Das Adjektiv müde gehört zweifelsfrei in die Kategorie von Wörtern, die in jedem Jahrzehnt einmal intensiv beim technischen Dienst für Eigenschaftswörter auf Abnutzungserscheinungen gründlich untersucht werden sollten. Es steht doch wohl außer jeglichem Zweifel, dass sich im Laufe der Jahre, berücksichtigend der außergewöhnlich hohen Nutzung, sich Abnutzungserscheinungen zeigen, die einen unproblematischen Einbau von müde in den Satzbau gewährleisten. Zumal der Begriff obendrein noch liebend gerne vor-, zwischen- oder angehängt wird, um sich im Angebotsregal einen besseren Platz zur Abwanderung in den Einkaufskorb zu sichern.
Nehmen wir das Beispiel Tod. Weder als Subjekt noch als Adjektiv als ein wahrer Renner beim Fischen im Wörtersee bekannt. Doch schnappt sich der Tod die Kollegin müde an seine Seite, sieht die Sache mit der Attraktivität plötzlich vollkommen anders aus. Der Nutzer verlässt die Trauerzone und wandert (wenn auch mit leichten Schwächen) wieder unter den Lebendigen. Wenn das mal kein Anreiz zur wertsteigernden Nutzung darstellt? Selbiges gilt auch für den Krieg. Wer will freiwillig dorthin und wer versorgt dann die Kühe Lona und Erika im heimischen Stall? Doch kaum bekennt der Schreihals mit den goldenen Sternen auf der Schulter, das Volk sei kriegsmüde, keimt wieder Hoffnung zwischen Stroh und frischem Klee auf, da die lückenlose Versorgung auch in Zukunft gesichert scheint. Der Krieg hat sich vermählt und verwandelte damit seine ansonsten hässliche Fratze in ein Gesicht, in dem eine friedvolle Zuversicht herauszulesen ist.
Da wir gerade beim Kasernenton sind, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass müde überhaupt nicht taugt, in das Gefüge eines Imperativs hineingepresst zu werden. Mama und Papa werden es kennen, wenn am frühen Abend (auf jeden Fall vor der 20:00 Uhr Tagesschau) der kleine Alfred, auf dessen ersten Schrei man so viele Monate sehnsüchtig gewartet hatte, porentief-sauber, das noch spärliche Kopfhaar frisch aufgebürstet und wasserdicht verpackt, mit der Botschaft auf den Arm genommen wird: »Jetzt gehen wir Heia machen.« Anstatt dankbar für diesen kostenlosen Service zu sein, setzt Alfred (von dem die Oma immer behauptet, er sei ein Goldschatz – aber unverkäuflich) zum Protestgeschrei an.
Somit allerhöchste Zeit etwas in Aussicht zu stellen, was an Spannung das Großstadtrevier, den Mord im Hafenviertel oder die Fahndung nach dem Triebtäter mit den roten Haaren und dem Ring durch die Nasenscheidewand möglichst rasch in den Schatten stellt. Sehr weit oben rangieren hierbei die Geschichten aus dem wahren Leben, aufs Papier gebracht von den Gebrüdern Grimm oder man hofft auf die Aufzeichnungen eines Wilhelm Busch, der mit seinen beigefügten Bildern, das Gemetzel für Klein-Alfred noch anschaulicher gestaltet.
Und siehe da, in dem Augenblick, als der hinterlistige Heinrich das erste Gänslein an der Gurgel packt, gehört das Protestgeschrei der Vergangenheit an. Große Augen und Hochspannung sind jetzt angesagt.
Obwohl hocherfreut über diese Entwicklung, plant der Papa jedoch bereits intensiv an seinem Rückzug, da Sven Plögers Stimme aus dem Wohnzimmer ihm verrät, dass in wenigen Minuten die Tagesschau beginnt. Genau hier bahnt sich die Katastrophe an, die zwangsläufig in einem Bestechungsversuch enden muss. Der Vorleser fährt im Kopf zweigleisig. Das sich anbahnende Gemetzel mit Gänsen und ungewissem Ausgang hat seine Priorität verloren.
Die vorherrschende Lage wird daher vollkommen falsch eingeschätzt und das plötzliche Schweigen des Sohnemanns als aufkommende Müdigkeit interpretiert.
»Wie ich sehe, ist mein kleiner Engel jetzt so richtig müde und will nur noch schlafen.«
»Nein, bin nicht müde. Weiterlesen!«
Eine Aufforderung, mit der nicht gerechnet wurde. Somit höchste Zeit für den Imperativ.
»Du bist müde! Morgen wird weitergelesen.«
Ab dem Moment sind beim Nachbarn Kopfhörer angesagt und Mama schlüpft in die Rolle der
Diplomatin. Mit dem Ergebnis, dass zwanzig Minuten später der hellwache Alfred seiner Mutter beim Schlafen zuschauen kann.
Zum Abschluss noch ein kurzer Abstecher zur Fehlinterpretation des Adjektivs müde.
Alles nahm seinen Lauf bei einem Termin in der Augenklinik, den ich (ganz nebenbei angemerkt) gemeinsam mit meinem Schwiegervater wahrnahm. In dieser Konstellation sind auch die ewig lange erscheinenden Wartezeiten zwischen den einzelnen Untersuchungen besser zu bewerkstelligen. Zumal der Vater meiner Frau solche Gelegenheiten nie verstreichen ließ, um mir eines seiner Gedichte (allesamt aus der untersten Schublade und daher höchst amüsant) zu zitieren oder den Text eines Liedes mit fragwürdigem Inhalt schmackhaft zu machen.
Wie scheinbar üblich in einer Uniklinik, geht keine Behandlung über die Bühne, ohne die Horde von Studierenden, die mehr oder weniger wissbegierig dem Facharzt lauschen und die Augen auf dessen Fingerfertigkeit richten. So auch in meinem Fall. Ich, liegend auf einer unbequemen, mit Plastikzeug überzogenen Pritsche und die Gaffer mit ihrem Fremdenführer um mich herum.
Da in jenem Behandlungsraum stets mehrere Patienten zur gleichen Zeit behandelt werden, war es wenig verwunderlich, dass auf einmal auch mein Schwiegervater im Raum stand.
Doch, anstatt sich den Anweisungen seiner ihm zugeteilten Ärztin Folge zu leisten und, ebenso wie ich, auf eine Liege zu begeben, steuerte er auf die Rudelbildung rund um seinen Schwiegersohn zu, bahnte sich seinen Weg in die erste Reihe und verteilte Ratschläge:
»Gepennt wird hier nicht. Wenn du müde bist, dann schaff’ dich nach Hause. Dort hast du auch ein richtiges Bett.«
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es üblich ist, dass Studenten, samt Facharzt, in Gegenwart eines nahezu hilflos wirkenden Patienten, in lautes Gelächter ausbrechen sollten?
Müde
Ich bin müde
Innen
Außen
Oben
Unten
Und -
Ganz intensiv
Auch mittendrin
Ich bin so müde
Die Last auf meinen Schultern
Scheint nicht ins Wanken zu geraten
Sosehr ich mich auch schüttele
Sie bleibt mit mir verzurrt
Was kann ich noch bewegen?
Wozu hab’ ich noch Kraft?
Ich bin müde
Nicht nur gedanklich
Dienst nach Vorschrift wäre angesagt
Verweigerung gegenüber jedem
Noch so kleinen Ausflug
Ins mich selbst verwirrende
Gedankenchaos
Vorbei -
Die Hoffnung auf den Blick
Weit über den Tellerrand hinaus
Kein Sezieren
Demontieren
Reflektieren
Ursachenforschung kategorisch ausgeschlossen
Betrachtung aus einer anderen Perspektive
Holprige, gar steinige Wege
Sowieso schon meidend
Neuer Asphalt ist jetzt gefragt
Geteert, sauber, glatt
Und ohne Widerstand
Denn ich bin müde.
Meine Beine schalten auf Schongang
Mein Körper scheint vergessen
Was wir gemeinsam über Jahre
Mühsam haben einstudiert
Der Vergangenheit angehörend
Die flüssigen Bewegungen
Alle Muskeln suchen ihren Trost
Im schmerzhaften Krampf.
Ich bin so müde
ein nicht enden wollenden Kampf
Mit
Für
Wegen
Oder auch gegen diesen Tag
Was ist zu tun
Was würde wenn
Wenn nicht heute
Wann dann
Ich muss jetzt unbedingt
Wie soll ich das bloß schaffen
Wenn nicht ich -
Wer dann?
Ich bin nur noch müde.
Eigentlich wie immer
In der letzten Zeit
Am Ende eines vom
Mir übermächtig erscheinenden Tages
Würde mein Herz sich plötzlich weigern
Den nächsten Schlag zu tun
Ich wäre damit einverstanden
Ich bin zu müde
Immer wieder in den Kampf zu ziehen
So mancher wird sich fragen
Was hat der Trottel bloß zu kämpfen?
Kann er das Leben nicht genießen?
Seinen Kampf mit sich und jedem neuen Tag
Da lohnt doch keine Selbstzerstörung
Viel lieber den Fokus neu zu richten
Auf all das Spannende
Im Anmarsch mit dem neuen Tag.
Nachtrag
Nun wird der interessierte Leser sich fragen, wie ein Zusammenhang zwischen einer Sonnenblume und der Müdigkeit hergestellt werden kann?
Folgender Dialog ergab sich, als meine Frau und ich am späten Nachmittag über unser Grundstück schlenderten, um zu erkunden, wo unbedingt Hand angelegt werden sollte.
Den Anfang machte meine Frau:
»Ich frage mich, wieso unsere Sonnenblumen nicht das befolgen, was die Natur ihnen in die Wiege gelegt hat? Nicht eine Einzige dreht ihren Kopf auch nur ansatzweise mit der Sonne.«
Meine Vermutung:
»Entweder haben wir bei der Samenauswahl in den falschen Topf gegriffen oder unsere Exemplare haben über Winter zum Islam konvertiert. Das mit immer gegen Mekka stimmt jedenfalls.«
Die kurze Replik:
»Dummschwätzer.«
Ich hatte jedoch noch eine andere Antwort auf Lager:
»Die glotzen eben nicht jedem strammen Hintern nach oder sie sind einfach nur müde von der ewigen Hitze.«
Etwas, was selten vorkommt – das Einlenken:
»Letzteres könnte ich mir vorstellen.«
Die Sonnenblume reagierte auf unsere Vermutungen auf höchst wundersame Weise.
Sie bildete innerhalb weniger Tage so viele neue Köpfe, sodass (egal wo der Uhrzeiger steht) einer immer in die richtige Himmelsrichtung blickt.
Sehr schön...🤗
Die Zustände erinnern mich an längst vergangene Zeiten.
Vor über 20 Jahren konnte das halbe Wartezimmer mithören, was der Sitznachbar schon so alles in seinem Leben an Erkrankungen hatte. Das änderte sich erst nach der Jahrtausendwende und den Umzug in eine neue Augenklinik...
Wird bei Euch früher oder später auch noch nachgeholt. Dann hört das Wartezimmer nicht mehr mit.
Ich hoffe es war nichts ernstes.
Nein. Es handelte sich um eine Nachuntersuchung, da ein Jahr zuvor das Herpes-Zoster-Virus sich im Bereich meiner Nase ein vorübergehendes Zuhause eingerichtet hatte. Außer einer kleinen Narbe und der Brille auf meiner Nase erinnert nichts mehr an den lästigen Untermieter.
Die Kontrolle hätte jeder ambulant tätige Augenarzt vornehmen können. In dem Fall bedurfte es keiner Uniklinik.
Oder sind die ambulant tätigen Augenärzte in Kroatien schon obsolet?
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Ein sehr kurzweiliger Post der mich durchaus erheitert hat. 👌😊
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mein Auge tut beim Frühstücken immer so weh., Doktor: Nehmen Sie beim nächsten Mal den Löffel aus der Kaffeetasse.
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