Im Schweizergarten

in Wien2 years ago (edited)

Liebe Leute,

der 11,5 ha große Schweizergarten gilt - zurecht - nicht als Touristenattraktion in Wien, trotz seiner interessanten Objekte (und der Nähe zum Belvedere), dazu wirkt er heute zu lieblos und verloren. Eingezwängt zwischen dem Gürtel (einer stark befahrenen Stadtautobahn), dem Hauptbahnhof und dem sog. Arsenal (Kaserne und ehem. Waffenfabrik, s.u.) verirren sich heute nur Anrainer, Reisende, die auf ihren Zug warten, und Penner dorthin.

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Warum ich darüber trotzdem einen derart aufwendigen post schreibe? Weil ich in meiner Kindheit selbst ein Anrainer war und ich mit meinen Eltern (R.i.p.) oft dorthin spazieren ging. Kürzlich war ich wieder dort, zum ersten Mal seit ca. 45 Jahren! Und je mehr ich darüber recherchiere, desto interessanter wird es 😄.

Der Park entstand rund um 1905, nachdem das Militär das unverbaute und ungenutzte Areal zwischen Arsenal und Bahnhof aus strategischen Gründen freihalten wollte. Benannt wurde er zu seiner Eröffnung 1906 Maria-Josepha-Park, nach der Erzherzogin Maria Josepha, Ehefrau von Erzherzog Otto.

So hat er ca. 1910 ausgesehen (im Hintergrund das Arsenal), im Stil eines englischen Landschaftsgartens.
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Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizergarten

Während und insb. nach dem ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Monarchie 1918 gab es in Wien eine große Hungersnot, verschärft durch viele aus dem Krieg heimkehrende Soldaten, die den Park neben dem Bahnhof als Schlaf- und Lagerplatz nutzten, worunter er massiv litt (und später komplett neugestaltet wurde). Zum Glück kam es zu internationalen Hilfsaktionen, im Zuge dessen auch >60.000 Kinder während des Hungerwinters 1918/19 in der Schweiz aufgenommen wurden. Aus Dankbarkeit benannte die Wiener Stadtregierung den Park im Dez. 1919 in Schweizergarten um!

Im 2. Weltkrieg wurde er dann wieder komplett zerstört, diesmal durch aliierte Bomben. Das benachbarte Arsenal war nämlich nicht nur schon im 1. Weltkrieg Kaserne, sondern auch Waffendepot und Waffenfabrik (mit eigenem Stahlwerk, Kanonengießerei, Gewehrfertigung,...) - zu Spitzenzeiten arbeiteten dort 20.000 Menschen. Hitler liess dort große Mengen an Munition produzieren, ab 1940 auch Geschütze. Er hatte auch alte Geschütze aus dem seit 1869 bestehenden ehem. k.k. Hof-Waffenmuseum, das im Arsenal untergebracht ist, in Betrieb setzen lassen.
Nach dem 2.Weltkrieg wurde das Arsenal demilitarisiert (bis auf das Museum) und ist seither Wohn- und Universitätsviertel.

Blumenschmuck.
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Nach Südwesten zu, Richtung "Favoriten" (10. Bezirk) grenzen an den Schweizergarten gesichtslose Neubauten.
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Gut versteckt mitten im Park: Das kleine, aber feine Restaurant "Klein Steiermark" mit einem ruhigen, schattigen Garten. Hier würde sich @reiseamateur bei einem Wien-Besuch sicher wohlfühlen!
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Die Elefantenstatue gibt es immer noch!
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Ich hatte total darauf vergessen, und durch den Anblick kommen nostalgische Erinnerungen an meine Kindheit herauf. Wie lustig fanden wir es damals, unter dem Wasserstrahl, der aus dem Rüssel des Elefanten kam, durchzulaufen!

Auch etwas in die Jahre gekommen, seit ich es zuletzt gesehen hatte: das Staatsgründungsdenkmal, eine Chromnickelstahlskulptur aus dem Jahr 1966 von Bildhauer Heinrich Deutsch und Architekt Berthold Gabriel, die die Begründung der Österreichischen Republik 1918 und ihre Wiedererstehung 1945 symbolisieren soll. Im Hintergrund sind Teile (Hotels, etc.) des neuen Hauptbahnhofs zu sehen.
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Erst 2010 dazugekommen ist die Plastik "La Note Bleue" anlässlich des 200. Geburtstags des Komponisten Fryderyk Chopin (1810-1849), ein Geschenk der Republik Polen an die Stadt Wien.
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Geschaffen vom polnischen Bildhauer Krzysztof Bednarski zeigt sie das Profil des polnischen Komponisten und nimmt Bezug auf die symbolische blaue Note, die in der Musik Chopins zu finden ist - "das Symbol für die höchste schöpferische Geisteskraft und das Geheimnis des künstlerischen Aktes". Chopin wohnte übrigens von 1829 bis 1831 in Wien, auf dem Kohlmarkt 9.

Von der gegenüberliegenden Seite aufgenommen sieht das Ganze nicht mehr so lieblich aus. Solche Fotos werden meist weggelassen oder gar nicht erst gemacht :)
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Im Schweizergarten befindet sich auch ein Denkmal zu Ehren des Anthroposophie-Gründers Rudolf Steiner (1861-1925).
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Damals einer meiner Lieblingsspielplätze - kaum zu glauben.
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Der Haupteingang zum Arsenal und dem darin befindlichen Heeresgeschichtlichen Museums, das einen eigenen post wert wäre. Es hatte schon 1923 ein modernes Konzept, nämlich auch die Schrecken des 1.Weltkrieges darzustellen. Im 2.Weltkrieg diente es dagegen als Propagandainstrument der Nazis unter anderem, indem sie dort Kriegsbeute ausstellten.
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Das Arsenal ist der bedeutendste Bau des Romantischen Historismus in Wien und wurde im italienisch-mittelalterlichen bzw. byzantinisch-maurischen Stil geschaffen. In Auftrag gegeben wurde es 1848 vom erst 19 Jahre alten Kaiser Franz-Josef I., 1856 wurde es fertiggestellt (unter Verwendung von 113 Mio. Ziegeln!).
Traditionell gibt es dort vor Weihnachten jedes Jahr einen Mittelaltermarkt (falls nicht gerade eine "Pandemie" wütet). Ich hoffe, heuer wieder dort sein zu können. Leider ist der Andrang immer sehr groß.

Noch mehr moderne Plastiken! Alles kein Zufall, denn der Park beherbigt auch (im Hintergrund zu sehen) das Belvedere 21 (wie es heute heisst).
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Das ehemalige Museum des 20. Jahrhunderts oder "Zwanz’ger-Haus", wie die Wiener es liebevoll nannten, war der österreichische Pavillon zur Expo 58 in Brüssel, der nach der Ausstellung in den Schweizergarten verpflanzt wurde. Danach wurde daraus eine Dependance des Museum für moderne Kunst (MUMOK). 2011 wurde es renoviert und trug danach den Namen 21er-Haus, seit 2018 nennt es sich "Belvedere 21". Trotz all der Namensänderungen war und ist es aber immer ein Museum für zeitgenössische Kunst (mit Fokus auf Malerei und Bildhauerei).

Vorderansicht (im charmanten Retro-Design der 1950er Jahre).
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Aussicht von der Galerie auf eine Sonderaustellung mit Skulpturen von Rebecca Warren.
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"Namen" von Peter Köllerer.
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Mehr über diese 80 aus immer dem gleichen Plastillin modellierten Köpfe hier.

Aber ich schweife etwas ab. Eventuell ist - entgegen meiner ursprünglichen Einschätzung - der Schweizergarten doch einen Besuch wert?

all pics (exc. no. 2) by @stayoutoftherz

Quellen:
https://www.wien.gv.at/umwelt/parks/anlagen/schweizer.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizergarten

Sort:  

HGM VIENNA 2015 22893345041_1b840835b1_k.jpg

Sicherlich einen Besuch wert! Ich bin selbst in der Gegend aufgewachsen und wir Kinder haben damals im (abgesperrten) Gelände des Arsenals so einigen Unfug getrieben (Fünfziger Jahre - viele Überbleibsel vom Krieg). Da gab es noch so einiges zu "finden" - und dass wir das überlebten ist sowieso erstaunlich, jedenfalls rückte die Polizei einmal deswegen aus, aber da waren wir schon lange weg (wir hatten Schleichwege über den Geiselberg bis zu uns in die Kreta).
Das Heeresgeschichtliche Museum ist sehenswert, und ich hatte ein Album auf Flickr eingestellt: https://www.flickr.com/photos/artofthemystic/albums/72157660960671992 - 2015
Ebenso der Mittelalterliche Advent Markt: https://www.flickr.com/photos/artofthemystic/albums/72157689126605851 - 2017

Dein Beitrag ist eine Anregung für mich dort wieder vorbeizuschauen.

Endlich einer, der den Park und das Arsenal gut kennt 😃. Andererseits, so viele Wiener sind ja nicht hier.
PS: Du hast 2mal den gleichen Link (vom Museum) gepostet.

muss ich korrigieren, einen Moment bitte.

Tolles Rundgang! Ich war noch niemals in Wien. War viel von die Allierten zerstört?

Interessante Info über Rudolf Steiner und Chopin!

Ja, schon. Es gab etliche Flieger-Angriffe.

Interessanterweise wurde das Arsenal kaum (ob überhaupt) beschädigt, dagegen der Umkreis wo ich aufwuchs war über 50% ausgebombt. Ich wohnte in einem Arbeiterviertel in der Nähe, und da gab es einige Industrieanlagen. Der (ehemalige) Südbahnhof aus der Kaiserzeit war schwer beschädigt und wurde dann abgerissen (daran erinnere ich mich ebenfalls - war gestützt mit Holzgerüsten), wobei heute das damals neu gebaute Gebäude (1955) dem neuen Hauptbahnhof weichen musste (konzipiert 2007, 2015 in Vollbetrieb genommen) - und all das noch in meiner Lebenszeit.

Danke. Ich habe nicht so viel über der Angriffe auf Österreich gelesen.

Ich finde, so schlimm sieht es da gar nicht aus. Leider verkommen solche Anlagen oft durch Bausünden und gewisses Klientel, das dort rumhängt. !hivebits !BEER !WINE


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Sehr interessante Geschichte :) da bekomme ich Lust, den Park wieder zu besuchen.

Schöner Beitrag!

why is everything so empty?

I try to avoid taking pictures of bystanders. It distracts. So there are people around, it is just a matter of perspective (and patience) to not having too much of them on the pics 😄.

I already thought monkeypox and covid mutate to another killer variant and the world is again in lockdown.

perspective and patience sounds also legit.

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Ich habe ihn vor etwa 10 Jahren mal besucht, er gefiel mir einigermaßen gut, viel Erinnerung habe ich allerdings nicht mehr daran. Wieder mal ein sehr interessanter Bericht mit guten Bildern!

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Manchmal muss einen doch das Gefühl heimsuchen, als hätten Städteplaner den Würgegriff erfunden oder für sich neu interpretiert! Die Armut der Architektur im Kampf gegen die Natur – welch ungleicher Kampf. Die Natur wird siegen, da Bagger zwar Beton, jedoch nicht die Siegerin in diesem Kampf dem Erdboden gleichmachen können.