Die Kanzlerin und das Biest

in #politik8 years ago

„Deutscher“ hätte Angela Merkels Auftritt im Bierzelt nicht sein können: Schmunzelnd prostet die Bundeskanzlerin mit einem Maßkrug in die Kamera. Ihr fast ironisches Lächeln lässt erahnen, dass sie sich der stereotypen Symbolik ihrer Geste wohl bewusst ist. Das Bild geht um die Welt. Es schlägt eine Brücke vom gemütlichen, fast provinziellen deutschen Michel zu der modernen Großmacht, die sich manchmal krampfhaft unverkrampft weltoffen und modern zu präsentieren versucht, als Nation, die zwischen Fußballpatriotismus und Willkommenskultur mit ihrer Vergangenheit versöhnt in der Weltgemeinschaft endlich den Platz einnehmen will, der von ihr erwartet wird. Oder ihr zusteht? Den Titel als „neue Führerin der freien Welt“ scheint die Ostdeutsche Merkel auch 27 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht ohne Vorbehalte und ein leichtes Unwohlsein verliehen bekommen zu haben. Bei allem gebetsmühlenartigen Bekenntnis zur „westlichen Wertegemeinschaft“ der letzten 68 Jahre, Aufarbeitung und einem kritischem Umgang mit der eigenen Vergangenheit, bleibt im In- und Ausland Skepsis. Den Mief, den manche noch wittern, wollen andere am liebsten als unzeitgemäßes Ressentiment abtun. Das Land sei bereit, die Rolle anzunehmen. Es würde förmlich dazu gedrängt, ziert man sich. Spätestens mit dem Austritt Großbritanniens nimmt die Bundesrepublik in der EU die eine (ungewollte) Hegemonialstellung ein. Andere erkennen, ob mit Genugtuung oder Resignation, Deutschland auf einen historisch vorgezeichneten Weg zurückkehren, es aus schließlich doch, oder endlich, aus der Schockstarre nach Diktatur, Weltkrieg und Auschwitz erwachen. Es ist nicht Liebe, aus der der der traditionell respektierte bis gefürchtete Wirtschafts- und Industriemacht angelobt wird. Mit dem Vereinigten Königreich verschwindet auch die Möglichkeit eines vereinten Gegengewichts mit Frankreich zu der mit Abstand größten Bevölkerung auf dem Festland. Es war die letzte, stille Rückversicherung, nachdem 1990 die Balance zwischen drei in etwa gleich großen und starken Partnern in Brüssel verloren ging und auch die Einbindung des freien Warschaus als Substitut für das wankelmütige London scheiterte. Für Unbehagen sorgen die Entwicklungen bei der ein dreiviertel Jahrhundert unangefochtenen Führungsmacht USA, die ökonomisch und militärisch fast die Gesamtheit ihrer Verbündeten aufwogen und als Supermacht aller Klassen als solche nie angezweifelt wurden. Daran ändert auch nichts, dass alte und neue Konkurrenten aufgeholt und der American Way of Life deutlich an Anziehungskraft verloren haben. Die Pole Position ist noch immer unangreifbar. Dennoch drängt Washington nach schweren Krisen, teuren Abenteuern und schlicht einer Neuausrichtung der eigenen Interessen infolge der veränderten Weltlage nach Ende des Kalten Krieges darauf, die Lasten innerhalb der Allianz neu zu verteilen. Das in Übersee wachsende Gefühl der Ungerechtigkeit und -verhältnismäßigkeit, mit der die Verbündeten im „alten Europa“ die von Washington garantierte Schutzzone nicht nur als Selbstverständlichkeit nähmen, sondern sich, besonders die 2+4-Bundesrepublik, auch noch aus der gemeinsamen Verantwortung und den Kosten dafür stöhlen, artikulierte sich spätestens mit der Wahl George W. Bush‘ ins Weiße Haus. Als sich noch die pathetische Rhetorik zur Nato-Bündnistreue im Zuge der Terroranschläge vom 11. September 2001 als nicht grenzenlos entpuppte, scheuten sich dieser Präsident wie sein Nachfolger nicht, vollmundige Versprechen auch einzufordern.

Seit Januar sitzt auf dem Stuhl im Oval Office nicht nur ein Mann, der über die Ankündigungen seiner beiden Vorgänger deutlich hinauszugehen ankündigt, einer, der seine Drohungen auch in die Tat umzusetzen bereit ist, sondern auch einer, der die Konsequenzen seiner Worte und Taten offensichtlich nicht allumfänglich begreift. Ob der Immobilienmogul Donald J. Trump, der in den ersten Wochen nach der Bewerbung um das Amt des „mächtigsten Mannes der Welt“ noch als chancenloser Hollywoodclown belächelt wurde, als Realsatire des in Europa gern blasiert rezipierten US-Politzirkus wahrgenommen wurde, sich zu Beginn seines Wahlkampfes selbst Chancen ausgerechnet hat oder der „Star“ nur eine gute Show zur Imagepflege abliefern wollte, wird nicht mehr geklärt werden. So sehr diplomatisches Einfühlungsvermögen und politische Intelligenz des „Dealmakers“ Zweifel aufwerfen lassen – die „Kleverness“ des Baulöwen steht außer Frage. Sie gehört zum Job - wie auch der eine oder andere unausweichliche Konkurs am Karriererand. Ein Businessman, der das Risiko und die Möglichkeit einzelner Firmenpleiten scheut, kann in der taffen Welt aus Schein, Sein und Dollars nicht bestehen, geschweige denn erfolgreich werden. Auch trotz bester Voraussetzungen nennt sich „The Donald“ zurecht einen Selfmademan. Seit er 1974 den New Yorker Familienbetrieb übernahm, hat er als Geschäftsführer aus den Millionen seines Vaters hunderte Milliarden gemacht. Statt sich auf dem Erbe auszuruhen, oder schlimmer, es zu verprassen, hat er sich eigene Lorbeeren verdient. Die goldenen Türme der Trump Organization sind die Paläste eines Imperiums, das sich von Manhatten aus von Küste zu Küste und darüber hinaus erstreckt. Bevor er Präsident wurde, war Trump bereits ein König, der seine Stadt New York City entscheidend mitgeprägt hat. Er gehört zu der Metropole am Hudson wie Empire State Building, Brooklyn Bridge und Hot Dog. Vielleicht war DJT‘s Kandidatur nur ein Werbegag für die 15. Staffel von „The Apprentice“, die ebenfalls im Januar anlief, ohne ihr zupackendes, direktes und etwas hemdsärmeliges Zugpferd allerdings bereits im Monat darauf wieder eingestellt wurde. Mit 58 Jahren hatte sich „The Donald“ im Showbiz selbst ein Denkmal gesetzt. Ein Hobby, das er seit Jugendtagen mit zumindest soviel Leidenschaft verfolgt wie das Golfen. Jetzt wurde er auch als markiger Entertainer anerkannt. Sein Einzeiler „You‘re fired!“ - weltberühmt. GZSZ, DSDS, MAGA. Vielleicht war die „Make America Great Again“-Schmierenkomödie auch der letzte große Coup eines B-Promis.

Die Berichterstattung über den Wahlkämpfer Trump war anfänglich die eines amüsierten Lückenfüllers neben der „echten“ Politik. Avancierte zunächst Bernie Sanders, dessen Aufstellung durch die Democratic National Convention als noch aussichtsloser galt als Trumps durch die Republikaner, zum Medienliebling. Der beißende Spott über den Verschwörungstheoretiker und Breitbart-Fan Trump, den fabulierenden Vorkämpfer einer illustren Minderheit aus ewig Gestrigen, die einem in den 80er Jahren untergegangenen „weißen Amerika“ hinterher trauern, Alt-Right-bewegten Neonazis und dem abgehängten „White Trash“ im Mittleren Westen bekam bald einen besorgten Unterton und wich der Erstarrung im Trump-Schock. Konnten manche selbst noch am Tag nach der Wahlnacht nicht glauben, dass die Groteske Realität geworden war, verfielen andere plötzlich düsteren Szenarien, die den vorherigen apokalyptischen Angst- und Wahnzuständen der Gegenseite kaum nachstanden. In der Tat: Der Komiker im Weißen Haus wäre unterhaltsamer, wenn es sich bei ihm um den autokratisch angehauchten Machthaber einer Bananenrepublik oder eines kleinen, osteuropäischen Landes handelte. Doch, auch wenn der Weltuntergang erstmal vertagt wurde, bleibt der bleierne Beigeschmack von fast 7000 nuklearen Gefechtsköpfen, über der Commander-in-Chief gebietet. Es ist zu hoffen, dass für die US-amerikanischen Atomstreitkräfte seit Hiroshima und Nagasaki eine Vorschrift erlassen wurde für den Fall, dass ein Irrer, Idiot oder Schimpanse am Roten Knopf sitzt.

Seit Präsident Trumps erster Auslandsreise in den Nahen Osten, den Vatikan, zur Nato und zum G7-Gipfel haben sich auch die letzten Hoffnungen zerschlagen, der von Seifenopern, von kleinen Nebenrollen in Hollywood oder World Wrestling Entertainment bekannte Donald wäre die Kunstfigur eines halbwegs talentierten Alleinunterhalters. Wenn er mit Journalisten redet, die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem besucht oder in selbstherrlicher Manier den montenegrinischen Ministerpräsidenten Dusko Marcovic anrempelt, Trump zeigt: Er ist der, der er immer behauptete zu sein. Auch haben ihn weder Würde und Verantwortung des Amtes, noch die Briefings im Rahmen der Amtsübernahme von Obama, noch die ersten Feuerproben als Staats- und Regierungschef gemäßigt oder wenigstens auf den Teppich geholt. Donald John Trump ist ein Rüpel, ein Rowdy, ein sexistischer, chauvinistischer Unsympath mit dem Charakter eines Schulhofschlägers und eben solcher Aufmerksamkeitsspanne. Ob er, womöglich ehrlich vom Anblick an Giftgas erstickter Babys bestürzt, einen Vergeltungsschlag auf Syrien anordnet, einen Flugzeugträger nach Nordkorea entsendet oder die vielleicht schwerste innenpolitische Krise seit dem Watergate-Skandal zu meistern versucht, nie kann er sich länger als vielleicht ein paar Tage auf ein Thema konzentrieren. Bei aller Kritik an dem formalisierten, von hoch bezahlten Image-, Strategie- und Unternehmensberatungen gegen gelesenen oder deren Ghostwritern gleich ganz auf Analysetechniken und Regeln der Marketingindustrie beruhend vorformulierten Retortensprech der „marktkonformen Demokratie“, wünscht man sich, Donald Trump möge sich doch beraten lassen oder wenigstens zweimal durchatmen, bevor er eine seiner 140-Zeichen-Botschaften in die Welt setzt. Die haarsträubenden Vereinfachungen, die er, ganz „einer von euch“, als unmittelbare Kommunikation, als direkte Demokratie ohne eine vermeintliche Filterung und Verzerrung durch die ihm verhassten Medien deklariert. Er, der "wie ihr" dem "tiefen Staat" misstraut. Der Mann, der über die Informationen der größten und besten Nachrichtendienste der Welt verfügt, vertraut lieber auf den Boulevardsender Fox News. Das lässt an die dunkelsten Seiten der Massengesellschaft denken. Twitter als Volksempfänger des 21. Jahrhunderts.

So beruhigend es ist, dass der amerikanische Rechtsstaat sich auf unerschütterlichem Fundament stehend demonstriert und dem unumschränkte Autorität gewohnten Ex-CEO sofort die Grenzen aufgezeigt hat, so bezeichnend ist der administrative Widerstand aber auch für das System, das Trump und seine Wähler anprangern. Der in zweieinhalb Jahrhunderten gewachsene Staatsapparat der USA macht es Trump nicht einfacher, als er es einem Obama gemacht hat oder einem Sanders gemacht hätte. Der tief im gesellschaftlichen Bewusstsein verankerte Föderalismus, die uramerikanische Angst vor der Bedrohung individueller Freiheit durch eine überhandnehmende Zentralinstanz hat ein fein austariertes wie unüberchaubares Netz von Check and Balances, konkurrierenden Kompetenzen, Prozedere, Organisationen und Rechtsmitteln geschaffen, die jegliche Initiative abzuwürgen drohen, die das System so starr wie stabil machen. So mächtig der US-Präsident die Union nach außen vertritt, so ohnmächtig steht er der Innenpolitik gegenüber. Diese, ihm bisher wohl unbekannte Insubordination muss den Patriarchen Trump wahnsinnig machen. Selbst, wenn es stimmt, dass sein geschäftlicher Erfolg auch darauf beruhte, dass er über ein Gespür für fähige Berater verfügt und die Bereitschaft, Ratschläge auch anzunehmen – die letztinstanzliche Entscheidung lag bisher immer einzig und allein bei ihm. Ob er verstehen kann, dass der Präsident kein Big Boss und die USA keine Limited sind?

Kompensiert Donald Trump mit seinem herrischen Auftreten gegenüber dem Ausland die Enttäuschung über die Innenpolitik? Die groß angekündigten Neuverhandlungen der Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA), seine Steuerreform, die Strafzölle auf ausländische Waren, das Versprechen vom Mega-Keynesianismus mit gigantischen Investitionen in Infrastruktur, Militär und den heimischen Mittelstand, der Pauschalverdacht gegen Muslime und die Mauer zu Mexiko – so einfach gestrickt bis hanebüchen Trumps Lösungsideen für die großen strukturellen und gesellschaftlichen Transformationsherausforderungen der Vereinigten Staaten klingen, so wenig weist darauf hin, er hätte sie nicht ernst gemeint oder verfolge sie nicht noch immer. Wahrscheinlich glaubte DJT, vielleicht getragen vom Hochgefühl, es mit dem Wahlsieg wieder allen gezeigt zu haben, tatsächlich an seine Hass- und Kahlschlagtiraden, die er, wie zur Selbstvergewisserung, wieder und wieder wiederholt. Vielleicht hält Trump Zwiesprache mit seinem Vater Fred, der Sohn Donald mahnend vom würdevoll gerahmten, einzigen direkt auf dem Schreibtisch aufgestellten Foto beobachtet: "I did it, Dad! Mehr kann ein Mann im Leben nicht erreichen." Hat er tatsächlich geglaubt, als einer, wenn nicht der größte Reformer und Präsident in die US-Geschichte einzugehen? Zumindest Augenblicke hat er. Angekündigt, vor lauter Arbeit seinen Regierungssitz kaum verlassen zu werden, wenn er erst einmal an der Macht ist, jettet er jetzt beinah jedes Wochenende nach Mar-a-Lago, dem privaten Rückzugsort. Erstmals als President-elect hatte selbst ein Donald Trump fast kleinlaut durchscheinen lassen, er habe den Workload des Amtes unterschätzt. Später trauerte er dem verloren, alten Leben nach, der Freiheit, dem der Partyhengst ungeniert fröhnen konnte. Nicht einmal Autofahren dürfe er noch selbst. In seinem Refugium direkt am Strand des noblen Ferienorts Palm Beach, Florida empfängt er sogar Staatsgäste wie den chinesischen Präsidenten Xi oder den japanischen Ministerpräsidenten Abe. Im „Southern White House“, wie er es selbst nennt, weit weg von D.C., wirkt er gelöster und entspannter. Abgeschirmt von den Fragen und Vorwürfen aus Presse, Kongress und FBI. Hier kann er bei seinem geliebten Sport abschalten, ist wieder Herr im Haus. Hilft auch das nicht mehr, den Frust abzubauen, bleibt das Bad in der Menge treuer, jubelnder Fans. Dort ist er wieder der Wahlkämpfer, ist in seiner Lieblingsrolle: nicht als gefürchteter Oligarch, sondern geliebter Entertainer.

Im Münchener Bierzelt wirkt auch Merkel gelöst. Sie kommt vom Evangelischen Kirchentag: Das ist ihr Zuhause, die natürliche Umgebung einer CDU-Vorsitzenden – manchmal vergisst man, dass sie das auch noch ist. Hier wird ihr zugejubelt. In zwölf Jahren hat sie sich in ihrem Amt allseitigen Respekt als versierte, besonnene Fachfrau erarbeitet. Erinnern wir uns an den Dritten Golfkrieg 2003: Die einstige Anti-Schröder-Rebellin aus Ostdeutschland flog als Repräsentantin eines „anderen Deutschlands“ zu George W. Bush und trieb eine Art Parallelaußenpolitik. Zwei Jahre darauf wurde er „ihr“ erster US-Präsident. Im Nachhinein wird sie dem SPD-Rivalen dankbar sein, dass er, nachdem Deutschland seine Bündnistreue bereits in Afghanistan unter Beweis stellt, aus dem Irak heraus gehalten hat. Und nur sein Name mit den Hartz-Reformen verknüpft bleibt, von denen sie profitiert. Angela Merkel überstand als Bundeskanzlerin das Fünf-Prozent-Desaster ihres Wunschkoalitionärs FDP. Die Große Koalition, zunächst nur als Notlösung im System des bundesdeutschen Parlamentarismus „vorgesehen“, entwickelte sich unter ihrer Führung, mit Unterbrechung, zu einer beinah harmonischen Regierung beinah "nationaler Einheit". Und sie zur präsidial wirkenden, fast überparteilichen Volkskanzlerin, der Generaldirektorin einer fein abgestimmten Verwaltungsherrschaft. Auch wenn der von ihr vorangetriebene „Linksruck“ der CDU zu Zerwürfnissen mit national-konservativen Kräften führte und so zum Aufstieg der AfD beigetragen haben kann. Auch wenn ein aufmüpfiger CSU-Häuptling den Konflikt Kohl/Strauß wieder anzuheizen versuchte und gegen seine irritierte Chefin doch nur ein lauwarme Brühe abgab. Angela Merkel ist die beliebteste Politikerin Deutschlands und der Deutschen - mit besten Aussichten, als solche in die Chroniken einzugen. Und ihre Umfragewerte legen weiter zu. Was die einen als politische Erstarrung, gar als „Diktatur“ wahrnehmen, empfinden die meisten Bürgerinnen und Bürger als Stabilität und Sicherheit. Mit Angela Merkel an der Spitze weiß man, was man hat. Steht sie nicht für große Sprünge, so doch auch nicht für große Irrtümer. Der Umgang mit Millionen Flüchtlingen an den Grenzen, ob nun aus echtem humanistischem Impetus oder „Unfall“ eines unvorbereiteten Krisenmanagements, verankerte sie schließlich bis weit ins rot-grüne Stammklientel hinein. Deutschland und die Welt erleben plötzlich die „Eiserne Kanzlerin“, die an Seiten von EU und Internationalem Währungsfond das Recht von Banken höher bewertet als die Würde von Menschen, sich gegenüber Griechenland gnadenlos zeigt und eine frei gewählte Regierung in die Knie gezwungen hat, mit menschlichem Antlitz. Angela Merkel lässt sich im Kreise ihr dankbarer Menschen fotografieren. Diese jetzt noch lächelnde Bundeskanzlerin umgibt bereits der Mythos einer guten Lotsin, die ihr Land sicher durch unsichere Gezeiten steuert. Angela Merkel, die Staatsfrau.

Entspannt sitzt sie im Münchener Bierzelt neben einem wieder gezähmten Horst Seehofer und lächelt. Auf dem Kirchentag hat sie Barack Obama getroffen. Der Bundeskanzlerin und „ihrem“ zweiten Präsidenten werden nach anfänglichen Differenzen ein freundschaftliches, ja, vertrautes Verhältnis nachgesagt. Dem Ex eine besondere Beziehung zu Deutschland, auch, weil er es in vieler Hinsicht als Vorbild für seine eigenen Reformen sieht. Den Aufenthalt hier hat er immer sichtlich genossen. Merkels Image als besonnene und umsichtige Anführerin trägt einiges dazu bei, dass es den europäischen Partnerländern leichter fällt, die Führungsrolle, die die deutsche Regierung zunehmend selbstbewusster ausübt, zu akzeptieren. Auch in in einer sich immer deutlicher abzeichnenden europäischen Sicherheitsstruktur, in der US-Streitkräfte eine spürbar kleinere Bedeutung haben könnten als bis heute. Vereinzelte Seitenhiebe verhallen als zahnloses Gebrüll. Während im Nachbarland Polen Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der Regierungspartei PiS, seine Pfeile gegen Berlin und Moskau zugleich abschießt, werden Teile der polnischen Streitkräfte ohne viel Aufhebens mit Bundeswehreinheiten integriert, wie es etwa auch schon bei Tschechen, Niederländern und weiteren engen Verbündeten der Fall ist. Trotz tausender GIs als Gewährsleute vor Ort, haben deutsche Generäle das Kommando über die multinationale Mission in Litauen übernommen. Ein Testlauf, wie einsatzbereit diese neuen Strukturen gegen den wiedererstarkten Erzfeind an der Ostflanke sind. Nach 73 Jahren stehen wieder deutsche Panzer im Baltikum.

Das protektionistische Gepolter Donald Trumps und seines in den Hintergrund tretenden Chefstrategen Steve Bannon bereitet in Berliner Wirtschaftsetagen höchstens Stirnrunzeln. Den amerikanischen Markt für deutsche Produkte zu schließen und dafür den Verlust von Milliardeninvestitionen und Technologietransfer aus der Bundesrepublik in die marode US-Wirtschaft in Kauf zu nehmen, wäre alles andere als ein guter „Deal“. Die kurzzeitige Aussicht auf einen handfesten Handelskonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China weckte sogar Hoffnungen, Deutsche und Europäer könnten auch noch ein von den Amerikanern überstürzt gerissenes Vakuum in Asien besetzen. Mit Indien, dessen hindu-nationalistischer Premierminister Narendra Modi gerade zu intensiver, bilateraler Beziehungspflege in Deutschland zu Besuch war, hat die Bundesrepublik ein Handelsvolumen nur knapp hinter der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien. Doch Xi Jinping konnte den gegen sein Land wütenden US-Präsidenten zunächst beschwichtigen, vielleicht sogar gewinnen. Das Einlenken betreffend Nordkorea: ein taktischer, für den nur der richtige Moment abgewartet wurde? Der kleine Verbündete ist für die chinesische Führung selbst längst zum Problemfall geworden. Pjöngjangs Atombomben stören den Handel in der Region, besonders das ohnehin belastete Verhältnis zu Japan, und bergen auch für den Großen Bruder im Norden ein unkalkulierbares Risiko. Nicht zuletzt würden im Falle eines neuen Krieges auf der koreanischen Halbinsel US-Truppen 500 Kilometer näher ans chinesische Kernland rücken. Dennoch: Hinter den Türen des Zentralkomitees muss man die weitere Diversifikation von Kapital und Geschäftsbeziehungen überdenken.

Es war die betonte Gelassenheit, mit der die Bundeskanzlerin eine mögliche post-amerikanische Neuordnung Europas unter deutscher Führung einläutete. Wird eine europäische Anführerin Merkel den Ausgleich mit Russland schaffen? Es ist bekannt, welches Kopfzerbrechen ihr Bush‘ Pläne einer weiteren Nato-Expansion auf ehemals sowjetisches Gebiet bereiteten. Könnte sich der Kontinent angesichts einer veränderten Sicherheitslage und ohne ständige Querschüsse von der Themse unter dem Schirm Deutschlands, vielleicht in einer gleichzeitigen Erneuerung der traditionellen Freundschaft mit Frankreich, der letztverbliebenen zuverlässigen Atommacht in EU und Verteidigungsbündnis, neu sammeln und weiter vereinen? Von Emmanuel Macron, dem neuen Hausherrn im Élysée-Palast, wird erwartet, dass er den französischen Wohlfahrtsstaat weiter an das Modell des erfolgreicheren Nachbarn ausrichtet.

Merkels knappe Sätze wurden bereits mit dem strapazierten Adjektiv „historisch“ belegt. Ob sich diese Zuschreibung auch bewahrheitet, kann allerdings nur die Geschichte selbst zeigen. Das Brexit-Schock gelähmte Europa scheint nur wieder die bereits länger eingeschlagene Marschrichtung hin einer emanzipierteren und selbständigeren Union zu beschreiten. Wie lange das Vereinigte Königreich im Schwebezustand des Außenseiters aber Mitglieds verharrt, ist nicht absehbar. Die Schadensersatzansprüche aus Brüssel lassen lange, intensive Verhandlungen erwarten. Die Herauslösung eines Glieds und seiner Volkswirtschaft aus dem Staatenverbund und der engen, seit der unmittelbaren Nachkriegszeit gewachsenen, organisatorischen Verflechtung mit ihren Institutionen ist beispiellos. Er wird Jahre dauern - und ist Sprengstoff für die Beziehungen zwischen den einzelnen britischen Landesteilen für sich. Sogar den Friedensprozess in Nordirland sehen manche gefährdet. Es ist unvorhersehbar, wann UK den Ausstieg auch praktisch vollzieht. Für die Übrigen jedoch können die plötzlichen transbretonischen und -atlantischen Unberechenbarkeiten die Integration beschleunigen. Soviel Ärger noch über Taormina in ihr steckt, Merkels Gelassenheit hinsichtlich der aufziehenden Ära ist kein Bluff. Sie hat es nicht nötig, den amerikanischen Präsidenten zu umwerben. Selbst wenn die USA mit Europa und Nato brechen sollten, würde es aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine Trennung auf Zeit. Trump hat kein Druckmittel, als dass seine Forderung massiver Mehrausgaben für den Wehretat oder angeblicher Schulden nicht betont zurückgewiesen werden könnten. Im Kreise von Nato und G7 müssen die Vereinigten Staaten, muss Donald Trump erfahren, nur Erster unter Gleichen zu sein.

Mutmaßungen, Merkels „Bierzeltrede“ könnte bl0ß Wahlkampfdämmerung sein, scheinen angesichts der Umfragewerte haltlos. Der Schulz-Zug ist abgefahren und die CDU liegt wieder klar vor den Sozialdemokraten, die das Kunststück versuchen, eine Politik anzuprangern, die sie seit zwölf Jahren unter höchstens symbolischem Widerspruch mittragen. Die FDP hat sich mit Christian Lindner einer Verjüngungskur unterzogen und wird im September in den Bundestag zurückkehren. Die Bundeskanzlerin kann sich womöglich aussuchen, mit wem sie regieren will. Zufrieden formt Angela Merkel im Bierzelt neben Seehofer die Hände zur Raute. Nicht nur der Horst kann sich volksnah geben. Doch im Gegensatz zu ihm, zu Trump und den anderen Rechtspopulisten in Deutschland, Europa und weltweit, ist sie es.