Ich kann nichts dafür, doch Weihnachten steht vor der Tür. Nach Außen hin hasse ich Weihnachten. Ich glaube weder an Gott, noch habe ich die Möglichkeit, es als Fest der Familie zu feiern. Trotzdem warte ich insgeheim auf eine Einladung: von Elisa, von Mutter, wenigstens von Irgendjemanden. Doch für mich gibt es nur dahingesagte Weihnachtswünsche und nichts Konkretes.
Ich bin zum ersten Mal Heiligabend allein. Ich habe nichts vor, die Decke fällt mir auf den Kopf und ich fühle mich so einsam. Kurzerhand schnappe ich mir ein paar Bierdosen und gehe vor die Tür. Irgendwem muss es doch genauso gehen. Seit Stunden laufe ich durch die kalte Stadt, doch wenn ich auf Jemanden treffe, dann ist er mit sich beschäftigt. Kein Lächeln, die Hände in den Taschen vergraben und die Schultern angespannt. Vor dem Hauptbahnhof sehe ich einen Obdachlosen, der abseits von den Anderen allein bettelt. Er braucht Geld für Essen und sein Name ist Sultan. Zumindest steht das auf dem Pappschild vor seiner Brust. Er ist der Einzige, der seinen Namen auf die Pappe schreibt, was ihn sympathisch und vertrauensvoll erscheinen lässt. Was er besitzt, trägt er am Körper oder in einer der beiden Aldi-Tüten. Ich verwickle ihn in ein Gespräch, indem ich ihn eine meiner Dosen gebe. Er hat heute ebenfalls nichts weiter vor. Wenn ich so mit ihm rede, bekomme ich das Gefühl, dass es Menschen gibt, denen es noch beschissener geht. Das tut gut. Wir reden über Weihnachten, die Kälte und über Alkohol. Sultan erklärt, dass er zur Intelligenz gehöre und Intelligenz eben saufe. Er sei Künstler, ein Maler, genau wie ich. Ich erzähle ihm von meinem Werk in der Wohnung und möchte es ihm gerne präsentieren. Ich biete ihm an, zu mir zu kommen und es zu bewundern. Er ist der erste Fremde, der meine Wohnung betritt. Bedenken habe ich keine. Verwüstet habe ich sie schon selber und vor ihm muss ich mich sicher nicht schämen.
Auf dem Weg zu mir reden wir über Dinge, über die man zwischen Freunden für Heiligabend so redet. Wir lästern über unsere Familien, über unsere Mütter und wir reden über unsere Väter. Bei ihnen widerfuhr uns das selbe Schicksal. Er hat seine Frau und seine kleine Tochter verlassen, um Geld für ein besseres Leben zu verdienen. Ich habe meine Familie verlassen, weil ich glaubte, ein besseres Leben verdient zu haben. Doch unsere tollkühnen Pläne scheiterten. Für heute haben wir nur uns.
Als wir bei mir ankommen, ist es mir nicht mehr danach, mit meinem Kunstwerk an der Wand anzugeben. Ich hole meinen Plüschfrosch und erkläre Sultan, er heiße Gerd und sei das letzte, was mein Vater mir hinterlassen hat. Sultan hat noch weniger. Er zeigt mir sein Amulett, das er immer um den Hals trägt. Er sagt nur soviel, dass sich darin ein Bild von seiner Frau mit seiner Tochter befinde. Alles sei schon viel zu lange her. Er kann nicht einmal mehr sagen, ob er zu erst gesoffen hat und sie dann nichts mehr von ihm wissen wollten oder ob es vielleicht umgekehrt war.
Wir haben meine gesamten Vorräte ausgesoffen und ich schlafe auf dem Sofa ein. Sultan verbringt die Nacht auf dem Boden vor dem Sofa. Es ist schön, heute nicht allein zu sein. In aller Früh steht er auf, will mir nicht weiter zur Last fallen und drängt zu gehen. Ich habe nichts dagegen, denn mein Schädel dröhnt, doch es ist Weihnachten. Ich will ihm wenigstens noch etwas Gutes tun, aber in meiner Wohnung ist nichts, was ihm nützlich sein könnte, außer der leeren Bierdosen. Großzügig schenke ich ihm den Pfand und wir verabschieden einander. Ich schaue ihm nach. Es macht mich nachdenklich, denn Sultan wirkt selbst allein nicht unglücklich, obwohl Weihnachten ist. Ich bin traurig, ihn gehen zu lassen. Ich will mir Gerdi schnappen und mich wieder aufs Sofa schmeißen. Da sehe ich, dass ihm Sultan die Kette mit seinem Amulette umgehängt hat. Ich muss schlucken. Ich nehme Gerdi zu mir und öffne es. Es ist leer.