Danke für deine Antwort. Ich freue mich darüber. Ich gehe darauf in zwei Teilen ein.
Teil Eins
Ich finde, der Begriff "Lebewesen" ist auf Mikroorganismen bezogen sehr irreführend - und noch viel mehr auf Viren, die wie gesagt nicht zu diesen gehören, da sie kein Organismus sind.
Diese Sichtweise ist möglich und logisch, wenn du Viren isoliert von ihren Lebensräumen (Wirten) betrachtest. Eine Biene beispielsweise getrennt von ihrer Umgebung zu betrachten, ist un-genügend, denn um Bienen zu "verstehen", ist es nötig, die Interaktionen und wechselhaften Beziehungen zwischen ihnen und ihren Lebensräumen anzuschauen. Bienen verschiedenster Arten bestäuben verschiedenste Blüten in unterschiedlichen Lebensräumen und das Bestehen dieser Pflanzen ist wiederum von anderen Milieus und Interaktionen abhängig (Insekten, die Einfluss auf Pflanzen nehmen, Säugetiere, die diese Insekten fressen, Milieus, in denen sich die diese Säugetiere bewegen usw.).
Der Unterschied dieser beiden Betrachtungsweisen - die a.) analytische/in Teilen und die b.) synthetische/im Ganzen - liegt in der Fragestellung. Die Analyse fragt nach dem "wie", die synthetische nach dem "warum". Beide haben ihre Berechtigung.
Für sich betrachtet, ist deine Wortwahl bezüglich Viren eine Möglichkeit, allerdings macht sie für die systemische Sicht auf Lebewesen, Ko-Existenzen voraussetzend, weniger Sinn, als wenn ich frage: "Welche Beziehung besteht zwischen dem Einen (Virus) und dem Anderen (Mensch), in welchem Milieu befinden sie sich beide und stehen in welcher Verbindung zu anderen Ko-Existenzen?"
Wenn du sagst, dass ein Virus im Prinzip "totes Material" ist oder "biochemischer Giftstoff", dann würde eine Reproduktion eines Virus als einzeln definiertes Ding logischerweise nicht stattfinden können, denn warum soll etwas, was tot ist, sich reproduzieren? Und wenn es sich reproduziert - das ist gängiger Konsens - dann in der Verbindung mit Zellen. Warum? Welchen (biologischen) Nutzen hat dies?
Du könntest auch sagen, dass Sonnenlicht unlebendig ist und man hätte nichts dagegen, allerdings bewirkt das Licht die Photosynthese und damit das Leben von Pflanzen, und dieses Zusammenspiel macht deutlich, dass etwas Unlebendiges mit etwas Lebendigem interagiert. Sonnenlicht, wenn man ihm hingegen in einer großen Intensität ausgesetzt ist, verbrennt wiederum Oberflächen und kann schaden. Ob du Strahlen nimmst oder Viren oder chemische Stoffe, Bedeutung und Wirkung erlangen diese Dinge immer in ihrer Verbindung; sie werden dadurch "Eins".
(Diese Verbindung hört aber nicht auf und geht von der naturwissenschaftlichen Betrachtung in die psychologische oder philosophische weiter.)
So gesehen betrachte ich persönlich Viren nicht als isoliert zu ihren Wirten. Eine saubere Trennung begünstigt meine zu konzentrierte Sicht auf eine einzelne Sache und ist aus meiner Sicht eine "disziplinarische" Angelegenheit. Jeder spricht - du, genau wie ich - aus seiner Disziplin heraus und verwendet Begriffe, die er gelernt hat.
Doch weder du noch ich können "Leben" definieren, noch verstehen wir es wirklich in Vollendung. Daher kann man auch "unlebendig" nicht definieren. Wir arbeiten hier mit unscharfen Begriffen.
Wie klingt es für dich, wenn ich sage, dass Mensch und Virus ein (temporär von einem in einen anderen Zustand gehender) Organismus sind? Und wenn ich weitergehe und sage, dass dieser eine Organismus zu einem größeren Organismus gehört, beispielsweise der gesamten weiteren Mikroben- , Pflanzen- und Tierwelt? Die Abhängigkeitsverhältnisse liegen für mich auf der Hand.
Meine hauptsächliche Prämisse:
Ich gehe grundsätzlich von einem lebensbejahenden Weltbild aus. Objekte in ihrer Evolution sind darauf aus, Leben zu begünstigen. Da es aber keinen von vornherein perfekten Organismus gibt (ich bitte dich, meine Anregung auf den Ursprung der Bakterien und Viren zu berücksichtigen), betritt er eine Art "Trainingslager", wo der Organismus immer und immer wieder mit Verbindungen konfrontiert wird, die seine Abwehrkräfte ansprechen. Er entwickelt "Muskeln" im Laufe der auf ihn wirkenden unzähligen und verschiedenartigsten Dinge, kann aber nicht in Zeit und Raum ganz perfekt sein. Da sich ja das Milieu auch ständig verändert. Wenn du die schiere Zahl der Mikrobiome nimmst und dann die Störer in den Vergleich setzt (die beim Training ihre Wirte umbringen), würde ich meinen, dass dieses wenig am positiven Bild verändert. Wie siehst du das?
Wenn ein Weltbild vertreten ist, das tendenziell solches "Stören" als inakzeptabel ansieht, wenn die Umgebung und die Wirkungsfaktoren tendenziell als feindlich und negativ eingestuft werden, hast du im Ergebnis tendenziell eine angstfördernde -und teilweise sehr aggressive - Anschauung. Man hält etwas für imperfekt, dabei ist es in seiner (nahezu) Perfektion eigentlich gut genug, wenn nicht sogar faszinierend.
Frage:
a.) Wenn du die prähistorische Erde betrachtest. Zu Zeiten als es - wie angenommen - primär chemische Verbindungen auf diesem Planeten gab und irgendwann - im Laufe der Jahrmillionen - aus diesen chemischen Verbindungen biologische Verbindungen hervorgingen. Einzeller und später Vielzeller. Wie erklärst du dir diese Theorie? Ist nicht etwas "Lebendes" aus etwas "Totem" entstanden?
b.) Kann man dann diese beiden Termini als getrennt betrachten? Verschwimmt die Definition/Grenze nicht eher, wird unscharf?
Teil Zwei
Was du über den Jugend-Kult sagst, dem stimme ich zu.
Überlebensinstinkt liegt für mich ebenfalls auf der Hand. Wenn einer mit der Faust auf mich zugeht oder mit einem Messer, wenn ich im Ozean zu ertrinken drohe, wenn ich fast von der Klippe falle, wenn ein großer Hund mich anbellt: Das alles sind instinkthafte Abwehrmechanismen, keine Frage. Selbst ein Mensch, der schon auf dem Sterbebett ist, würde vermutlich instinkthaft die Hand heben, wenn sich ihm etwas Schreckhaftes nähert.
Ist eine nicht unmittelbare, nicht direkt erfahrene, nicht genau jetzt sich mir zeigende und körperlich spürbare Bedrohung auch dem Überlebenstrieb zuzuordnen? Ich verstehe das Weiterspinnen deines Gedankens als ein "Nein" auf diese Frage.
Sich darin zu üben, den Tod nicht als Feind zu sehen, ist eine immer gute Idee, wie ich finde. Du hast auch die Patientenwürde angesprochen und ich finde das einen wichtigen Punkt.
Dein Gedanke, dass die Alten sich aufgrund der irgendwann endenden Geschlechtsreife besser mit Tod anfreunden, den gehe ich prinzipiell mit und würde meinen, das solches eine entspannte Haltung ist. Ich hab da mal was Interessantes gehört: "Man kann von Alten erwarten, dass sie sterben, man darf es nur nicht fordern."
Dass wir keine entspannte Haltung zu Alter, Behinderung, Krankheit und Tod haben, liegt für mich an der fehlenden Praxis. Ich meine, man sollte in Wiederholung Geburten und Sterben erleben und diese existenziellen Erfahrungen zurück in den privaten - und dadurch wieder allgemein werdenden - Raum nehmen. Wo die Regeln derjenigen gelten, sprich, die Regeln der Frauen und bei den Geburten helfendem Hebammen und die der Angehörigen und der Sterbenden beim Übergang in den Tod. Stell dir vor, du hättest mittlerweile direkt - oder indirekt - acht oder zehn Geburten und du hättest bereits zwölf oder zwanzig Sterbende erlebt. Was denkst du, wie würde sich das auf dein Weltbild auswirken?
Biologie & Kultur sind auf dieser Basis für mich untrennbar. Dass ich die Lanze für die holistische Sicht breche, hat mit einem für mich wahrgenommenen Überhang der analytischen Sicht zu tun. Ich halte Analyse für wertvoll und wichtig, du kannst aber meine Texte immer als einen Versuch werten, diesen Überhang auszugleichen.
Viele Grüße an dich!