28. November 2018
Gestern wurde in einigen Medien berichtet [1-5], dass zwei namhafte deutsche Politiker neue Vorgehensweisen im Umgang mit der rebellisch auftretenden Partei Alternative für Deutschland vorgeschlagen haben, die nahezu geniale Züge beinhalten. Zur Erklärung sei gesagt, dass ich diese Vorschläge für untauglich halte und im Rahmen dieses Beitrags auch erkläre, warum ich das so sehe. Der erste Vorschlag [1-3] stammte von dem Ministerpräsidenten des Deutschen Bundeslandes Niedersachsen, Boris Pistorius (SPD) [6]. Der zweite von dem Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Alexander Dobrindt [7].
Herr Pistorius' Konzept besagt, dass die etablierten Parteien, in seinem Wortlaut alle demokratischen Parteien, einen Migrationsfrieden schliessen sollen, um in dem Thema Migration für Ruhe zu sorgen. Meine Reaktion darauf lautet folgendermassen: Die einzige Partei, die das Thema Migration kritisch bis sehr ablehnend sieht und lautstark alle möglichen Verfehlungen nennt, ist die AfD. Das Thema wurde ihr in ihrer verlängerten Positionierungsphase von allen anderen mehr oder weniger bewusst offeriert, sie hat es genommen. Aus allen anderen Parteien gab es einzelne Stimmen, die auf Schwierigkeiten, Missstände und Probleme hingewiesen haben, aber keine der Parteien hat sich wirklich hinter diese Mitglieder gestellt. Deswegen lautete das Spiel, das in jüngerer Zeit gespielt wurde, im wesentlichen:
(Stereotypen: Scheinbürgerliche, Rechtsextremisten, Verschwörungstheoretiker, Menschenfeinde)
Die AfD plus Unterstützer gegen alle anderen
(Stereotypen: Etablierte, Kartellparteien, Altparteien, realitätsentrückte Verwalter).
Ein überparteiliches Einverständnis zwischen fünf der sechs im Bundestag vertretenen Parteien würde an dem Spiel genau nichts ändern. Und an der Realität, dass die Kosten/Nutzen-Rechnung der Migration im tiefstroten Bereich liegt, auch nicht. Aber es würde für Mitglieder und Abgeordnete dieser fünf Parteien noch einmal deutlich schwieriger, Kritik zu üben. Selbst dann, wenn sie objektiv berechtigt ist. Unter diesen Umständen von einem Frieden, einem Migrationsfrieden zu sprechen, halte ich für grob verfehlt. Aber immerhin wurde ein neuer Begriff erfunden.
Auch in Sachen Wählermobilisierung wäre es nicht unbedingt förderlich. Jeder, der das Migrationsthema kritisch sieht, wird nicht mehr vertreten und wäre schon fast angehalten, die AfD zu unterstützen. Dies tun viele aus nachvollziehbaren Gründen nicht, auch weil sich die Partei durch innere Streitigkeiten und einige unbelehrbare Figuren nicht als besonders vertrauenswürdig präsentiert.
Anhand der Aussagen der Ministerpräsidenten sehe ich einmal mehr, dass es Juristen offenbar allergrösste Mühe bereitet, in mechanistischen Abläufen oder mehrstufigen Prozessen zu denken. Zur Veranschaulichung werde ich das Problem wie einen chemischen Prozess darlegen und erklären. Man stelle sich vor, es gäbe einen technischen Prozess zur Herstellung eines Produktes. Man hat Zutaten (Reaktanden), vielleicht ein Lösungsmittel, Gefässe und einen Katalysator zur Erleichterung und Beschleunigung des Vorgangs. Wenn ich versagt habe und bei den Zutaten nicht nur eine ungenügende Reinheit vorliegt, sondern ein Katalysatorgift enthalten ist, kann ich tun und versuchen, was ich will, solange ich das Gift nicht herausbekomme oder den Prozess ändere, funktioniert es nicht mehr richtig. Ich kann versuchen die Zutaten oder den Katalysator zu streicheln oder zu prügeln, es wird nichts nützen. Denn die Tatsache ist die, dass ich zwei Möglichkeiten habe, um die Sache zum Erfolg zu führen: Zutaten ohne Gift oder einen geänderten Prozess.
Auf die Politik adaptiert wird die erstgenannte Option sehr schwierig zu realisieren. Im System Demokratie deutscher Prägung gibt es zwar Richtlinien und Gesetze für Parteien, aber selbst eine Randpartei wie die Nationaldemokratische Partei Deuschlands (NPD), die ein kaum demokratisches, sondern eher ein national-sozialistisches Programm vertritt, konnte in der Vergangenheit nicht verboten werden. Doch über die Partei hinaus gibt es eine Bewegung, die mit dem Gedankengut der AfD sympathisiert, anders ist kaum zu erklären, wie die Partei es regelmässig hinbekommt, pro Parteimitglied 100 [8-9] oder noch mehr Wählerstimmen zu erreichen. Die Sache mit der Aufreinigung würde ich als aussichtslos bezeichnen.
Es ist auch interessant, dass von der SPD im Winter berichtet wurde, dass sie wegen der Abstimmung über eine weitere Regierungsbeteiligung mehr als 24'000 neue Mitglieder gewinnen konnte [10]. Angesichts der Tatsache, dass sich die Wahlergebnisse dieser Partei im Verlaufe des Jahres 2018 rückläufig zeigten, frage ich mich, mit welchen Zielen diese neuen Mitglieder beigetreten sind. 24'000 sind mehr als zwei Drittel der gesamten Mitgliederzahl der AfD, die aktuell etwa 33'500 Mitglieder hat.
Somit bleibt nur ein veränderter Prozess um zu Erfolgen zu gelangen. Mit einem Migrationsfrieden ändert man wie oben erklärt weder den Prozess noch dessen Bedingungen in signifikantem Masse. Einen neuen Katalysator gibt es auch nicht. Mich würde es sehr stark wundern, wenn auf diese Weise tatsächlich das eintreffen würde, was sich der Urheber dieses Planes erhofft.
Der grosse politische Stratege der frühen Neuzeit, Niccolò Machiavelli (1469-1527) [13]. Gemälde von Santi di Tito (1536-1603) [14].
Herr Dobrindt war in seinen Äusserungen wie es für einen Politiker gehört, der in der Legislative tätig ist, deutlicher. Er sagte an die Individuen, dass er die Falschbehauptungen der Rechtsaussen-Panikmacher [5] satt habe und sich ihnen entschlossen engegenstelle. Und an das Kollektiv AfD sagte er, dass man sie aus den rechten Netzen holen soll, im Bundestag inhaltlich stellen, widerlegen und wieder aus dem Deutschen Parlament rausjagen soll [5].
Das ist alles möglich, es gab schliesslich fast 70 Jahre Bundesrepublik ohne AfD. Diese Partei muss keinen ewigen Bestand haben, aber ihre Entstehung verdankt sie in irgendeiner Form diesen fast 70 Jahren BRD, sie ist also keine reine Ursache weiterer Probleme, sondern auch Auswirkung von bestehenden Missständen. Zum Ausdruck Rechtsaussen-Panikmacher sei gesagt, dass die Provokation für Menschen aus dem Umfeld der AfD wohl der einzige Weg ist, um sich rasch Gehör zu verschaffen.
Die Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Alice Weidel [8], ist als einigermassen kühl und technokratisch wirkende Rednerin gestartet und wurde erst dann mehr gehört, als sie begonnen hat, zu provozieren und emotional aufgeladene Reden zu halten. Politik ist offenbar zu einem Teil auch Theater und Inszenierung und das ist keine Erfindung der AfD.
Wie schon zuvor gesagt, sollten sich diese offenbar mit grosser Weisheit gesegneten Politiker vor allem einmal darüber Gedanken machen, wie sie denn die meist über 100 Wähler, die die AfD pro Parteimitglied zu mobilisieren imstande ist, wieder für sich begeistern wollen. Dass diese das Land von heute auf morgen verlassen, wird nämlich nicht geschehen, auch das Wahlrecht kann ihnen kaum entzogen werden. Ohne ein halbwegs vernünftiges Angebot wird dieses Vorhaben nicht zu erreichen sein. Ich bin sehr gespannt auf mögliche Angebote und gebe als kleinen Hinweis ein mögliches mit, welches die Qualifikation gut ganz sicher nicht verdient: "Sie dürfen mich oder uns gerne wählen aber ansonsten gefälligst den Mund halten."
[1] Boris Pistorius - „Einen Migrationsfrieden verhandeln“. Welt.de, 27. November 2018, von Manuel Bewarder, Ulrich Exner, Thorsten Jungholt https://www.welt.de/politik/deutschland/plus184525810/Boris-Pistorius-Einen-Migrationsfrieden-verhandeln.html
[2] Ohne AfD - Pistorius wünscht sich Migrationsfrieden. Junge Freiheit, 27. November 2018, von (krk) https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2018/pistorius-wuenscht-sich-migrationsfrieden/
[3] Pistorius will „Migrationsfrieden“ und sagt: Keine Abschiebungen nach Syrien – Große Probleme mit Identitätstäuschern. Epoch Times, 27. November 2018, von (dts) https://www.epochtimes.de/politik/deutschland/pistorius-will-migrationsfrieden-und-sagt-keine-abschiebungen-nach-syrien-grosse-probleme-mit-identitaetstaeuschern-a2720809.html
[4] UN-Migrationspakt - Dobrindt will AfD aus dem Bundestag jagen. Junge Freiheit, 27. November 2018, von (krk) https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2018/dobrindt-will-afd-aus-dem-bundestag-jagen/
[5] "Ich habe es satt": Dobrindt stellt sich gegen "Falschbehauptungen der Rechtsaussen-Panikmacher". Passauer Neue Presse, 28. November 2018 https://www.pnp.de/nachrichten/politik/3152651_Ich-habe-es-satt-Dobrindt-stellt-sich-gegen-Falschbehauptungen-der-Rechtsaussen-Panikmacher.html
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Boris_Pistorius
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Dobrindt
[8] Politik 054 - Deutsche Bundespolitik und Wählermobilisierung. @saamychristen, 23. Januar 2018 https://steemit.com/deutsch/@saamychristen/politik-054-deutsche-bundespolitik-und-waehlermobilisierung
[9] Politik 082 - Gedanken zu AfD bei 17 % - Mobilisierung. @saamychristen, 14. Juli 2018 https://steemit.com/deutsch/@saamychristen/politik-082-gedanken-zu-afd-bei-17-mobilisierung
[10] Mitgliederbefragung: 24.339 Neumitglieder in der SPD. Zeit online, 06. Februar 2018 https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-02/mitgliederbefragung-spd-neumitglieder-grosse-koalition
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Weidel
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Niccol%C3%B2_Machiavelli
[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Santi_di_Tito
Die Bilddatei ist aufgrund des Alters des Gemäldes - 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts - gemeinfrei, gefunden wurde sie unter [12].
Bisherige Posts in der Rubrik «Politik».
Übersicht über alle Rubriken.
Zum "Migrationsfrieden": Könnte man rechte und linke Ansätze nicht kombinieren? Bis zu einem gewissen Grad widersprechen sie einander ja nicht ...
"Rechte" Lösungsansätze: Grenzen schließen, kriminelle und nicht integrierbare Personen abschieben, Pull-Faktoren verringern, Strafverfolgung optimieren
"Linke" Lösungsansätze: Integrationsmaßnahmen von Migranten optimieren, Arbeitsmarktsituation von M. optimieren, Bildungs- und Unterbringungsangebote verbessern
Sonstige Lösungsansätze: Hilfe vor Ort, militärische Interventionen, die Flüchtlingsströme auslösen, nicht mehr unterstützen
Zu den "Sonstige Lösungsansätzen":
Glaubt jemand ernsthaft, dass die militärischen (und paramilitärisch und black ops-) Interventionen auch nur um 1 Grad geändert würden, wenn Deutschland sie nicht mehr unterstützt?
Hilfe vor Ort? Da müsste man in 20 afrikanischen Staaten ein Wohlfahrtssystem einführen, dass ansatzweise denen in D/Schweden entspricht. Ist das auch nur annähernd realistisch?
Danke für den Kommentar!
Selbstverständlich, die einzige wirklich gute Möglichkeit, die so Ungeliebten wieder loszuwerden, wäre sie tatsächlich überflüssig zu machen. Das geht nur, indem man einige der berechtigten Anliegen übernimmt. Mit einer rein ablehnenden Haltung kann das nicht funktionieren. Man sollte auch anfangen, kleine Deals zu machen, bei denen keiner das Gesicht verliert.
Das Problem der Etablierten ist, dass sie auch gemessen an der Realität in Europa in Sphären abgedriftet sind, die nur noch für wenige verständlich sind. Für die eigenen Leute, die sie mithilfe der Medien in die selbe Sphäre entrückt haben, müssen sie diesen Zustand aufrechterhalten, entfernen sich aber beständig von alledem, was bei nüchterner Betrachtung vernünftig ist.
Ein aktueller Tweet von Frau Kramp-Karrenbauer [1] zeigt das sehr deutlich:
Auf mich wirkt das wie eine Neuinterpretation deutschen Grössenwahns, den man am nettesten mit am deutschen Wesen soll die Welt genesen beschreiben kann. Wenigstens sagt sie nicht, wie sie dieses Modell zum "Exportschlager" machen möchte. Sehr gefallen hat mir zum gleichen Themengebiet auch ein Interview mit dem Historiker Andreas Rödder [2].
Zu den militärischen Interventionen kann ich wenig sagen, nur dass Deutschland in dieser Beziehung eine sehr geringe Rolle spielt. In Afrika ist beispielsweise Frankreich um ein Vielfaches aktiver. Aktuell befinden wir uns auch in einem Zeitalter, in dem der Westen eher an Einfluss verliert.
Das bedeutet, dass auch andere entscheiden können und man vom Westen aus möglicherweise machtlos ist, wenn ein Land davon überzeugt ist, dass es jetzt wieder Zeit für Kriegsführung zwecks Eroberung ist. Wichtig ist, dass man den Aggressoren dann nicht noch den Gefallen tut, den Schaden, den sie angerichtet haben, gleich wieder sauber zu machen, sondern dass man sie in die Verantwortung zwingt. Das sage ich auch an die Adresse der Menge sozialistischer Staaten in Afrika, Asien, Mittel- und Südamerika, die meinen, ein Recht auf Menschen- und Agentenexport zu haben. Ein solches haben sie nicht, aber sie haben das volle Recht, die eigenen Länder voranzubringen.
[1] Annegret Kramp-Karrenbauer bei Twitter: https://twitter.com/A_K_K/status/1067482731255341056
[2] Interview - Der Historiker Andreas Rödder: «Alle haben Angst vor Deutschland, einschliesslich der Deutschen selbst». NZZ, 28. November 2018, von Claudia Schwartz https://www.nzz.ch/feuilleton/andreas-roedder-angst-vor-deutschland-ld.1439649