Oder: Warum hat Anarchismus eigentlich nichts mit Politik zu tun?
Diese Tage wird ja (glücklicherweise) immer mehr über Begriffe wie Anarchismus, Libertarismus, Anarchokapitalismus und Voluntarismus diskutiert. Interessanterweise gibt es sogar innerhalb dieser freiheitlich denkenden „Gemeinde“ solch enorme Auslegungsunterschiede, dass es für Außenstehende schlicht unmöglich scheint, zu verstehen, worum es dabei eigentlich geht.
@ned und @dan sehen sich selbst als Voluntaristen und Steemit als voluntaristische Plattform. Aber selbst hier auf Steemit, gibt es immer wieder Diskussionen, die die Begriffe verdrehen, Vorurteile schüren oder schlicht (aus meiner Sicht) Falsches propagieren.
Ich selbst habe auch schon mit einigen Diskussionen über das Thema geführt, meist in privaten Chats. Manchmal gibt es echtes Interesse, oft gibt es keinerlei Verständnis, meist Ablehnung und fast immer geht eine Schublade auf: Chaos, Gewalt, Rechtslosigkeit. Die Schublade geht wieder zu und das Thema Anarchie ist für die nächste Zeit abgehakt...
Eigentlich bin ich kein Freund von Labels, weil Sie nie wirklich treffen, was ein Individuum eigentlich darstellt. Schubladendenken eben. Wenn ich mir selber das „Label“ Anarchist, oder sogar Anarchokapitalist verpasse, dann ist das der ursprünglichen Bedeutung der Worte Anarchie und Kapitalismus geschuldet.
Anarchie kommt aus dem Griechischen: ἀναρχία anarchía „Herrschaftslosigkeit“ oder „Ohne Herrscher“
Kapitalismus wird von Wikipedia sehr passend zusammengefasst:
„…eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung(…), die auf Privateigentum an den Produktionsmitteln und einer Steuerung von Produktion und Konsum über den Markt beruht“
So, nachdem das erstmal geklärt ist, gehe ich einmal ein wenig darauf ein, was das Ganze für mich bedeutet. Ich bin gedanklich wahrscheinlich weit entfernt von der „reinen Lehre“, für etwas anderes bin ich aber wohl einfach zu pragmatisch. Ebenso bin ich sicher weit davon entfernt, alle Antworten zu besitzen und vor allem kann und will ich niemandem Vorschriften machen. Dafür gibt es auch Gründe:
Herrschaftslosigkeit impliziert ja zuvorderst, keinen Herrscher zu haben, also keinen der Vorschriften macht. Heutzutage ist diese Vorstellung für viele ein Synonym für Chaos, Rechtslosigkeit, Ungerechtigkeit. Das ist sicher kein Zufall, aber diese Vermutung durch Tatsachen zu belegen wäre wohl gleich mehrere Artikel wert. Halten wir der Einfachheit fest, dass es aus Sicht derjenigen, die herrschen wenig opportun scheint, in Anarchie etwas anderes als das systemisch Böse zu sehen, entzöge diese ja sowohl Herrschaftsanspruch und Sonderstellung als auch mehr oder weniger ein bequemes Auskommen…
An was glaube ich also als Anarchist? Für mich sind es zwei Regeln, die ich so konsequent befolge, wie es mir die Gesellschaft erlaubt:
1) Keine initiierende Gewalt
2) Freiwilligkeit aller involvierten Personen.
Kurz erklärt, was ich damit meine: Initiierende Gewalt ist quasi die „Anfangende“ Gewalt. Die kleinen Erpressungen zwischendurch, bis zum Staatenübergreifenden Drohgebärden. Als Beispiele können folgende Situationen herhalten:
- Räume Dein Zimmer auf, sonst setzt es eine Tracht Prügel => initiierende Gewalt
- Tu was ich sage, sonst sperre ich Dich in Dein Zimmer => initiierende Gewalt
- Erledige Deine Aufgaben, sonst gibt es kein Taschengeld => initiierende Gewalt
Alle drei Beispiele sind bewusst aus der Kindererziehung gewählt, um zu unterstreichen, wie sehr Gewalt schon in der Erziehung verwurzelt ist. Kein Wunder also, wenn für die meisten Menschen folgende Aussagen völlig normal wirken:
- Halte Dich an meine Regeln, sonst schick ich die Polizei
- Mach Deine Steuererklärung, sonst sperre ich Dich ins Gefängnis
- Wehre dich nicht dagegen sonst erschieße ich Dich.
Sobald ich an diesen Punkt komme, fangen in der Regel die Fragen nach Alternativen an. Bei der Kindererziehung reicht ein wenig nachdenken und geschickteres (und gewaltloses) Formulieren. Man muss tatsächlich lernen Zeit zu verlieren um Zeit zu gewinnen. Insgesamt ist aber das Vertrauen größer, das Verständnis intensiver und letztendlich das Resultat ehrlicher. Beim Staat gestaltet sich dies deutlich schwieriger, unterliegt aber den gleichen Effekten. Dazu aber möglicherweise später mehr.
Freiwilligkeit ist ein schwierigeres Thema. Mit der Theorie darüber kann man ganze Bücher füllen. Ganz kurz zusammengefasst, kann man davon ausgehen, dass wenn zwei Menschen oder Parteien sich auf etwas einigen, beide darin einen Vorteil sehen.
Das abgedroschene Beispiel dazu:
Ich habe einen Kugelschreiber, Du einen Euro. Ich gebe dir den Kugelschreiber, Du mir den Euro. Grund: Mir ist der Euro mehr wert als der Kugelschreiber, Dir ist der Kugelschreiber mehr wert oder Du brauchst ihn gerade und beide sind zufrieden. Man kann aus diesem einfachen Beispiel schon die abstrusesten Situationen konstruieren, aber alle sind irrelevant, da beide freiwillig Geld gegen Ware tauschen. Das ist der (freie) Markt.
Nun aber zum eigentlichen Kern dieses Artikels: Warum ist Anarchie das genaue Gegenteil von Politik?
Seit einiger Zeit wird über Anarchie auch politisch diskutiert. Da gibt es angeblich die linken Anarchisten und die Rechts-Anarchisten, gemäßigte Anarchisten, Minarchisten (Minimalstaatler), Libertäre und sonstige Auswüchse. All diese Labels nützen leider wenig und zielen nur darauf ab, die jeweiligen Vertreter in passende Schubladen zu stecken. Auch hier könnte für mich kaum etwas weniger relevant sein.
Anarchie ist für mich etwas Persönliches, eine ganz eigene Entscheidung Zwang und Gewalt und damit Herrschaft abzulehnen. Diese persönliche Präferenz mit Zwang und Gewalt durchzusetzen ist so abwegig, dass ich darüber gar nicht wirklich weiterschreiben möchte. Nur so viel, um den Gedanken zu Ende zu führen: Wie ein Zusammenleben anarchistisch aufgebaut wird ist erst mal völlig egal. Es muss nur freiwillig und ohne Gewalt sein.
In meiner anarchistischen Gesellschaft kann jeder sich jedem Herrscher und Sicherheitsgefühl unterwerfen, dem er möchte, aber ich möchte davon verschont bleiben. Es kann ein Zusammenleben in Form von Kommunen sein, die alles in einen Topf werfen und zusammen davon leben, oder eine gated Community mit rein kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen. Es geht also bei Anarchie schlicht nicht darum, anderen vorzuschreiben wie Zusammenleben funktioniert, sondern für einen selbst herauszufinden, was für einen selbst ein gewaltlosen und herrschaftslosen Weg zu finden.
Politik ist das eigentlich alles nicht, schon gar nicht links oder rechts.
Warum gebe ich mir das Label "Anarchist"?
Ich mag es einfach nicht bevormundet zu werden. Ich bin ein Individuum und es kann schlicht niemand wissen, was für mich gut ist und was ich tun MUSS. Solange ich keinem schade möchte ich in Frieden gelassen werden. Ebenso möchte ich nicht, dass jemand in meinem Namen Gewalt ausübt. Dies geschieht nämlich in dem Moment wo ich jemandem meine Stimme gebe um zu entscheiden, welche Gruppe welche andere Gruppe dazu zwingen darf, was gerade als "richtig" und "falsch" politisiert wird.
Hier mag ich auch nur sagen "Not in my name". (sic!)
Genauso möchte ich sagen, wann ich etwas als Herrschaftsstruktur und als Zwang identifiziere. Die Liste wird immer länger. Und wenn ich im Sinne von "viel Feind, viel Ehr" aufzählen sollte: Feminismus, Genderwahn, Klimawende, Toleranz, Islam, Anti-Islam, Grenze auf, Grenze zu, Trump, Hillary, Pegida, AfD, CDU, SPD, Linke und vor allem Grüne... usw. usf.
Auf die Effekte der Massenpsychologie habe ich ja bereits in einem meiner letzten Posts aufmerksam gemacht.
Ich beschäftige mich nun seit einigen Jahren mit dieser Philosophie und stelle immer mehr fest, dass es eigentlich nichts gibt, was privates Interesse nicht günstiger, schneller und besser zur Verfügung stellen könnte als der Staat.
Ein kleines Beispiel aus einem Nachbardorf:
Das Dorf besteht nur aus einigen wenigen Häusern entlang einer Hauptstraße. Viele sind da mit einer viel zu hoher Geschwindigkeit durchgefahren. Die staatliche Lösung war eine sogenannte Geschwindigkeitsüberwachungsanlage (ja, das sind die Dinger, die anzeigen, wie schnell man fährt und das mit einem lachenden oder zornigen Smiley kommentieren). Der Effekt ist eher zweifelhaft und führt zu einer angeblichen Geschwindigkeitsreduktion von 20%. (wahrscheinlich geht der Effekt aber tatsächlich gegen null)
Die direkten Kosten für so ein Teil liegen bei etwa 3000 Euro pro Jahr. Die Kosten für den Entscheidungsprozess, ob und wann so ein Teil aufgestellt wird, wer das zahlt, der Schriftverkehr, Zeitaufwand und die Kosten für die Arbeitszeit aller involvierten Personen noch gar nicht hinein gerechnet.
Die ganz anarchistische Lösung ist quasi kostenlos umgesetzt (tatsächlich innerhalb der gesetzlichen Rahmenbedingungen) und 100% effektiv beide Varianten sieht man auch auf folgendem Foto.
Gerne möchte ich hier in den Kommentaren zur Diskussion anregen, was der Staat tatsächlich besser und günstiger tun kann, als dies privates Interesse könnte.
Ich bin sehr gespannt! Bitte bleibt sachlich! Danke!
Hi, toller Beitrag.
Eine Frage habe ich aber zum Thema Gewaltinitiierung. Du schreibst:
Ist das "sonst gibt es kein Taschengeld" nicht einfach nur ein Vorenthalten möglicher Vorteile? Anders gesagt, bietest Du hier nicht nur einen Deal im Sinne von "Du tust deinen Job und ich bezahle dich dafür" an?
Deine anderen Beispiele involvieren Schläge, Einsperren, Erschießen, etc. Das sind offensichtliche Androhungen von Gewalt, aber bitte erläutere mir, wo die Gewaltandrohung beim Taschengeld liegt, denn auf den ersten Blick sehe ich nicht, wo hier ein Nachteil bei nichtbefolgen angedroht wird. Keinen Vorteil zu bekommen ist ja nicht das gleiche wie einen Nachteil zu erleiden.
Ups... beinahe uebersehen... Also es ist natuerlich wichtig zu sehen, welche Grundvereinbarung mit dem Kind getroffen wurde. Ist das Taschengeld etwas Grundsaetzliches (wie bei sehr vielen) oder basierend auf einer Vereinbarung (wie z.B. bei uns). Wenn etwas scheinbar grundsaetzliches entzogen wird, ist das quasi Gewalt. Wenn eine Vereinbarung nicht gehalten wird, gibt es "keinen Vertrag" mehr. Eine Formulierung koennte sein:"Denkst Du noch daran, was wir wegen Deinem Zimmer ausgemacht haben?" Der Druck ist so auch da, aber anders, nicht von oben herab, sondern auf einer Ebene.
Toller Artikel, ich danke für die ausführliche Erklärung!
Gerne. Wenn man das versucht zu Ende zu denken kommt man auf wirklich ueberraschende Resultate...
Chess is my favorite game))
Wer sich auf das Labeling einlässt, hat eigentlich schon verloren und findet sich in endlosen Diskussionen wieder. Ich antworte auf die Frage: "Bist du ein Anarchist/Voluntarist/Libertärer?" einfach nur: "Ich bin ein Mensch, der gegen Gewalt gegen friedliche Menschen ist. Wie du das nennst, ist mir egal." Das funktioniert ganz gut.
Wer Gewalt gegen friedliche Menschen in Ausnahmefällen richtig findet, muss mir erklären, in welchen Ausnahmefällen und ob er für diese Ansicht auch die volle persönliche Verantwortung übernehmen würde und diese Gewalt persönlich androhen oder vollziehen würde.
Wenn bspw. jemand für die Schulpflicht ist, frage ich ihn, ob er mich auch persönlich ins Gefängnis prügeln würde, wenn ich mein Kind nicht in die Schule schicke, weil es anders besser lernt.
Ui, das ist aber nett, dass dieser Artikel nach so langer Zeit noch gelesen und sogar kommentiert wird. Danke dafür!
Gute Gedanken! Die Label sind wirklich schwierig. Oft gibt es aber kaum eine andere Möglichkeit um anderen eine Vorstellung davon zu vermitteln, wovon man redet, dabei aber kurz bleiben möchte. Ich will mir gar nicht vorstellen wie man das in anderen Sprachen macht, in denen die Präzision und die Zwischentöne quasi nicht vorhanden sind...
Die Tatsache zu erklären, dass es ausnahmslos moralisch falsch ist, einem friedlichen Menschen auf die Fresse zu hauen, ist in allen Sprachen sehr einfach zu vermitteln. Weil es dem Wesen des Menschen und der Menschlichkeit entspricht. Sobald man aber anfängt, diese Polit-Sprech Begriffe zu verwenden, wird es nervig und kompliziert.